Montag, 5. März 2018

Eine Rosskur. Eine Elegie. Zoltán Huszáriks Kultugeschichte des Pferdes



Das war einer der ungewöhnlichsten Orte, an denen ich jemals übernachtet habe. Das Zimmer ist geräumig, mit hoher Decke, und hölzernen Dielen, die knirschen, wenn man sie nur anschaut. Dazu gibt sich das Haus so hellhörig wie jemand, dessen Ohren fortwährend gespitzt sind, um ja keine Neuigkeit zu verpassen. Da es alt ist, verfügt es natürlich auch über ein ganzes Arsenal an natürlichen Geräuschen, die in ihm rumoren. Es knirscht, knarzt, quietscht, als würde es atmen. Früher hätte man gesagt: Da spukt's! Unter mir, getrennt von meiner Matratze durch wenige Meter, befindet sich ein Pferdestall mit acht Insassen. Auch sie haben sich auf die Nacht eingestellt. So spät ist es noch nicht, kurz nach neun vielleicht. Deshalb liegen sie, wie ich, noch wach, beziehungsweise: Sie stehen in ihren Boxen, und plaudern miteinander über die Palisaden hinweg. Das ist ein Schnauben, ein Wiehern, ein Hufgetrommel, dass es mir vorkommt, wenn ich die Augen schließe, ich würde direkt zwischen ihnen sein, sie riechen, manchmal einen wirbelnden Schweif ins Gesicht bekommen. Ich mache die ganze Nacht kein Auge zu, und lausche angestrengt, mimetisch das Haus nachbildend, neugierig auf jede Kleinigkeit, die da unter mir passiert, wo es ab und zu lange Zeit still ist, und dann doch plötzlich jemand leise die Nüstern bläht. Irgendwann bilde ich mir ein, nicht mehr das Haus atmen zu hören, sondern die Pferde. Ist das nicht ihr Herzschlag, der den Takt zu meinem eigenen vorgibt? Stehen die eigentlich wirklich immer noch, oder haben sie sich hingelegt, auf die Seite ins Stroh? Und, hey, wovon träumen Pferde eigentlich?

 
Vielleicht davon: Die Sonne geht in der Steppe auf. Eine weite Landschaft, in der zwei Pferde grasen: ein weißes und ein schwarzes. Ein Himmel, in dessen Blau ein Vogelschwarm seine Freiheit zelebriert. Dann die Herde. Ein lautes Trommeln von Hufen, die allesamt in irgendeine Richtung davongaloppieren. Falls es ein Ziel, einen Grund für die Hektik gibt, erschließt er sich mir nicht: Irgendwann stehen sie jedenfalls alle wieder still, schauen sich um, grasen weiter. Falls Pferde Musik hören können, gibt es dazu einen verzerrten elektronischen Soundtrack mit angejazztem Tröten. Falls Pferde sich für Filmgeschichte interessieren: Das sind die ersten Minuten von ELÉGIA, dem ersten Kurzfilm, den der 1931 geborene ungarische Regisseur Zoltán Huszárik nach Abschluss seines Filmhochschulstudiums im Jahre 1965 dreht. Seinen Titel trägt das visuelle Poem, wie ich jetzt weiß, zurecht. 


Pferdedarstellungen findet Huszáriks Kamera bereits auf den Wänden prähistorischer Höhlen, vielleicht als Götter, vielleicht auch nur als profane Abbildungen der Realität, mit denen unsere Vorfahren tagtäglich zu tun hatten. In ELÉGIA sind diese Bilder als harte inserts eingefügt, nachdem die Bewegung unserer Pferdeherde sich in Zeitlupe verlangsamt, und die Kamera sich, synchron zu einem langgezogenen Wiehern, zur Seite gewandt hat, so, als ertrüge sie diesen Anblick nicht: Pferde ohne einen bestimmten Nutzen für die menschliche Gesellschaft, ohne Abhängigkeiten zu dieser, einfach nur ihrem Trieb folgend in einer Steppe, so weit wie das Auge reicht. Die folgenden achtzehn Minuten von Huszáriks Film nämlich erzählen eine andere Geschichte. Dass sie wahr ist, macht sie nicht verdaulicher. Es ist die Kulturgeschichte des Pferdes in der abendländischen Gesellschaft. Es ist die Geschichte davon, wie die ersten Agrarbauern sich das Pferd zunutze machten, um ihre Felder zu bestellen. In Halbtotalen und Großaufnahmen lässt Huszárik zeitgenössische Vertreter dieses Standes in seine Kamera blicken. Dann erfüllt den Bildkader zu einer unglaublich wehmütigen Meloduie ein riesiger Acker. Winzig klein ziehen Pferde und die ihnen angehängten Gerätschaften ihre Furchen in ihm. Räder sind zu sehen, die ersten Ställe, ein Haufen Knochen unserer Ahnen im primitiven Erdgräbern. Das Bild gefriert manchmal, manchmal filmt Huszárik durch die Realität verzerrende Glasplatten hindurch, die möglicherweise die Perspektive der Pferde darstellen sollen, die als letztes irgendwer fragt, was sie davon halten, zu Nutztieren geworden zu sein. Immerhin, da ihre neuen Herren auf sie angewiesen sind, bekommen sie einen warmen Platz zum Schlafen, genügend zu fressen, wenn auch bestimmt mal die Peitsche zu spüren, wenn sie nicht spuren. Das sind Kollateralschäden, denke ich.


Das Drama nimmt seinen Lauf. In Großaufnahme: Ein paar Hufe auf einem Straßenpflaster. Alte Photographien von Kutschen erinnern mich daran, wie präsent einstmals Pferde in jedem Stadtbild gewesen sind. Heute kennt man sie nur noch durch pompöse Monumente, und selbst dort oft einzig als Sattelträger irgendwelcher Herrscher und Eroberer. Huszárik von seiner lyrischsten Seite erinnert mich wiederum daran, wie wenig es bedarf, um allein aus wundervoll komponierten, beleuchteten, montierten Bildern bereits im Kleinen wahre Symphonien zu schaffen: Ein Ross im Dunkel, von dem es sich bloß durch die Weiße seines Fells abhebt. Täubchen erheben sich in den Nachthimmel, auf und davon flatternd. Inzwischen irritiert mich übrigens die Tonspur mit einer delirierenden Drehorgelmusik. Weit gefehlt ist die Assoziation nicht: Eins dieser Plastikpferdchen, die sich noch heute in jedem Karussel meist mit entzückten Kindern auf den Rücken um ihre eigene Achse drehen, schiebt sich ins Bild, und mit ihm das Dilemma der Moderne. Durch die wachsende Technologisierung verliert das Pferd seinen Status als unbedingtes Erfordernis für den Menschen. Huszárik mag die Kirmes, die Rennbahnen, die Reithallen noch so ästhetisch ansprechend, beinahe barockhaft, filmen, und in seiner virtuosen, sich von Assonanzen und Assoziationen leiten lassenden Montage zusammenbringen: Die Nischen, die dem Pferd jetzt noch zum Besetzen bleiben, sind engmaschig, und nur zur Bespaßung derer da, die sie mit viel Phantasie geschaffen haben, und nun mit den Händen voller Wettgeld, Reitgerten oder Zuckerwatte genau dieses Recht von denen einfordern, die sie nie gefragt haben, ob sie dieses ihr angebliches Recht überhaupt anerkennen.


Es ist erst die Hälfte der Laufzeit verstrichen. Trompeten jubilieren nicht, sondern schreien. Die Montage entgleitet jedweder kontrollierenden Instanz. Ein dumpfes Dröhnen wird zum grundierenden Sound des Films. In den Großstädten wirken die wenigen Pferde, die man noch zwischen Bahngleisen und Autos an Zügeln herumführt, genau wie die Fremdkörper, die sie sind. In freier Wildbahn übrigens nicht minder: Erst denke ich mir noch, wenigstens dort sind sie ja noch frei, dann entlarvt die Kamera beim Zurückzoomen die Reiter, die links und rechts die Herde flankieren, und nach ihrem Willen lenken. Ein Pferd blickt, wie so viele andere, direkt in die Kamera. Letztere fährt näher zu ihm heran, studiert die seltsamen Runen auf seinem Gesäß: Vernarbte Initialen, die ihm ins Fleisch eingebrannt worden sind. Heroisch ist nicht mal mehr ihr Tod. Wild kompiliert Huszárik Schwarzweißphotographien irgendwelcher Kriege. Man weiß nicht recht: Sind da mehr gefallene Soldaten oder Pferde auf den Schlachtfeldern liegengeblieben? Im Schlachthaus fällt die Antwort leichter. Der Ton ist nun komplett abgedreht. Nichts soll mich davon ablenken, wenn ich das Pferd auf seinem letzten Gang begleite. Bevor man den Hammer schwingt und ihm damit den Schädel einschlägt, bricht sich ein wüstes Jazz-Getrommel Bahn. Ein Pferd nach dem andern stirbt. Blut sprenkelt die Schlachthoffliesen, sehr viel Blut. Dazu fährt Huszáriks Kamera an Straßenlaternen vorbei, deren Koronen die Nacht zerpflücken und kahle Baumwipfeln erhellen, die im Abendwind schaukeln, und irgendwie ist das noch das versöhnlichste Bild, das er für sein Mausoleum all der in Mitleidenschaft gezogener, geschundener, geschlachteter Stuten und Hengste finden kann. 


Am Ende von Huszáriks Elegie blicken wir mit extraterrestrischen Augen auf das, was von der Geschichte (wie von jeder) übrigbleibt: Sporen, Hufeisen, die als historische Artefakte regelrecht klinisch präsentiert werden, als seien sie entweder Zeugen eines Verbrechens oder kostbare Kunstexponate, oder beides. Der elektronische Score fiept inzwischen nur noch, hoch und schrill, während der Abspann läuft, und mich atemlos zurück in jene Welt führt, die Huszárik derart eindrücklich beschrieben hat – eine Welt, in der Pferde verdrängt sind an die Peripherie, in Hemisphären, die Experten, Nerds vorbehalten sind, adoleszenten Mädchen, die Turnierreiterinnen werden wollen, und Schaustellern, die ihren Pferden Kunststücke beibringen, und sie sie dann in nach Heu riechenden Zirkuszelten aufführen lassen, und Pferdewirten, die ihr Geld mit dem Samen wertvoller Hengste verdienen. Bei letzteren bin ich gewesen, diese eine Nacht, als ich nicht schlafen konnte oder wollte oder sollte, und an die ich mich gestern erinnert habe, als ich zum ersten Mal den ersten Film sehe, den der ungarische Regisseur Zoltán Huszárik nach seinem Filmhochabschluss gedreht hat, ein visuelles Gedicht, dessen technisch-ästhetischen Einzelpartikel derart homogen ineinandergreifen, dass es seinem Titel mehr als gerecht wird: Es ist eine Elegie in Bildern, möglicherweise genauso sehr für die Pferde, die vor unseren Augen und in unseren Gedächtnissen den Pflug ziehen, das Brandeisen empfangen, das Schlachtermesser in den Hals bekommen, wie für diejenigen, die all das zu verantworten haben. Eine Elegie für die Menschlichkeit also? Ich komme mir pathetisch vor.