Das war einer der ungewöhnlichsten
Orte, an denen ich jemals übernachtet habe. Das Zimmer ist geräumig, mit hoher
Decke, und hölzernen Dielen, die knirschen, wenn man sie nur anschaut. Dazu gibt sich
das Haus so hellhörig wie jemand, dessen Ohren fortwährend gespitzt sind, um ja keine Neuigkeit
zu verpassen. Da es alt ist, verfügt es natürlich auch über ein ganzes Arsenal
an natürlichen Geräuschen, die in ihm rumoren. Es knirscht, knarzt, quietscht,
als würde es atmen. Früher hätte man gesagt: Da spukt's! Unter mir, getrennt von meiner Matratze durch wenige Meter,
befindet sich ein Pferdestall mit acht Insassen. Auch sie haben sich auf die
Nacht eingestellt. So spät ist es noch nicht, kurz nach neun vielleicht.
Deshalb liegen sie, wie ich, noch wach, beziehungsweise: Sie stehen in ihren
Boxen, und plaudern miteinander über die Palisaden hinweg. Das ist ein
Schnauben, ein Wiehern, ein Hufgetrommel, dass es mir vorkommt, wenn ich die
Augen schließe, ich würde direkt zwischen ihnen sein, sie riechen, manchmal
einen wirbelnden Schweif ins Gesicht bekommen. Ich mache die ganze Nacht kein
Auge zu, und lausche angestrengt, mimetisch das Haus nachbildend, neugierig auf
jede Kleinigkeit, die da unter mir passiert, wo es ab und zu lange Zeit still
ist, und dann doch plötzlich jemand leise die Nüstern bläht. Irgendwann bilde
ich mir ein, nicht mehr das Haus atmen zu hören, sondern die Pferde. Ist das nicht ihr Herzschlag, der den Takt zu meinem eigenen vorgibt? Stehen die eigentlich wirklich immer noch, oder haben sie sich hingelegt, auf die Seite ins Stroh? Und, hey, wovon träumen Pferde eigentlich?
Vielleicht davon: Die Sonne geht in
der Steppe auf. Eine weite Landschaft, in der zwei Pferde grasen: ein weißes
und ein schwarzes. Ein Himmel, in dessen Blau ein Vogelschwarm seine Freiheit
zelebriert. Dann die Herde. Ein lautes Trommeln von Hufen, die allesamt in
irgendeine Richtung davongaloppieren. Falls es ein Ziel, einen Grund für die
Hektik gibt, erschließt er sich mir nicht: Irgendwann stehen sie jedenfalls alle wieder still,
schauen sich um, grasen weiter. Falls Pferde Musik hören können, gibt es dazu
einen verzerrten elektronischen Soundtrack mit angejazztem Tröten. Falls
Pferde sich für Filmgeschichte interessieren: Das sind die ersten Minuten von
ELÉGIA, dem ersten Kurzfilm, den der 1931 geborene ungarische Regisseur Zoltán
Huszárik nach Abschluss seines Filmhochschulstudiums im Jahre 1965 dreht.
Seinen Titel trägt das visuelle Poem, wie ich jetzt weiß, zurecht.
Pferdedarstellungen findet Huszáriks
Kamera bereits auf den Wänden prähistorischer Höhlen, vielleicht als Götter, vielleicht
auch nur als profane Abbildungen der Realität, mit denen unsere Vorfahren tagtäglich zu
tun hatten. In ELÉGIA sind diese Bilder als harte inserts eingefügt, nachdem
die Bewegung unserer Pferdeherde sich in Zeitlupe verlangsamt, und die
Kamera sich, synchron zu einem langgezogenen Wiehern, zur Seite gewandt hat, so,
als ertrüge sie diesen Anblick nicht: Pferde ohne einen bestimmten Nutzen für
die menschliche Gesellschaft, ohne Abhängigkeiten zu dieser, einfach nur ihrem
Trieb folgend in einer Steppe, so weit wie das Auge reicht. Die folgenden
achtzehn Minuten von Huszáriks Film nämlich erzählen eine andere Geschichte.
Dass sie wahr ist, macht sie nicht verdaulicher. Es ist die Kulturgeschichte des
Pferdes in der abendländischen Gesellschaft. Es ist die Geschichte davon, wie
die ersten Agrarbauern sich das Pferd zunutze machten, um ihre Felder zu
bestellen. In Halbtotalen und Großaufnahmen lässt Huszárik zeitgenössische
Vertreter dieses Standes in seine Kamera blicken. Dann erfüllt den Bildkader zu einer unglaublich wehmütigen Meloduie ein riesiger Acker. Winzig klein
ziehen Pferde und die ihnen angehängten Gerätschaften ihre Furchen in ihm.
Räder sind zu sehen, die ersten Ställe, ein Haufen Knochen unserer Ahnen im
primitiven Erdgräbern. Das Bild gefriert manchmal, manchmal filmt Huszárik
durch die Realität verzerrende Glasplatten hindurch, die möglicherweise die
Perspektive der Pferde darstellen sollen, die als letztes irgendwer fragt, was
sie davon halten, zu Nutztieren geworden zu sein. Immerhin, da ihre neuen
Herren auf sie angewiesen sind, bekommen sie einen warmen Platz zum Schlafen,
genügend zu fressen, wenn auch bestimmt mal die Peitsche zu spüren, wenn sie
nicht spuren. Das sind Kollateralschäden, denke ich.
Das Drama nimmt seinen Lauf. In
Großaufnahme: Ein paar Hufe auf einem Straßenpflaster. Alte Photographien von
Kutschen erinnern mich daran, wie präsent einstmals Pferde in jedem Stadtbild
gewesen sind. Heute kennt man sie nur noch durch pompöse Monumente, und selbst dort oft einzig als Sattelträger irgendwelcher Herrscher und Eroberer. Huszárik von seiner lyrischsten Seite erinnert mich wiederum
daran, wie wenig es bedarf, um allein aus wundervoll komponierten,
beleuchteten, montierten Bildern bereits im Kleinen wahre Symphonien zu
schaffen: Ein Ross im Dunkel, von dem es sich bloß durch die Weiße seines Fells
abhebt. Täubchen erheben sich in den Nachthimmel, auf und davon flatternd. Inzwischen
irritiert mich übrigens die Tonspur mit einer delirierenden Drehorgelmusik. Weit gefehlt ist die Assoziation nicht: Eins dieser
Plastikpferdchen, die sich noch heute in jedem Karussel meist mit entzückten
Kindern auf den Rücken um ihre eigene Achse drehen, schiebt sich ins Bild, und
mit ihm das Dilemma der Moderne. Durch die wachsende Technologisierung verliert
das Pferd seinen Status als unbedingtes Erfordernis für den Menschen.
Huszárik mag die Kirmes, die Rennbahnen, die Reithallen noch so ästhetisch ansprechend,
beinahe barockhaft, filmen, und in seiner virtuosen, sich von Assonanzen und
Assoziationen leiten lassenden Montage zusammenbringen: Die Nischen, die dem
Pferd jetzt noch zum Besetzen bleiben, sind engmaschig, und nur zur Bespaßung
derer da, die sie mit viel Phantasie geschaffen haben, und nun mit den Händen
voller Wettgeld, Reitgerten oder Zuckerwatte genau dieses Recht von denen
einfordern, die sie nie gefragt haben, ob sie dieses ihr angebliches Recht
überhaupt anerkennen.
Es ist erst die Hälfte der Laufzeit
verstrichen. Trompeten jubilieren nicht, sondern schreien. Die Montage
entgleitet jedweder kontrollierenden Instanz. Ein dumpfes Dröhnen wird zum
grundierenden Sound des Films. In den Großstädten wirken die wenigen Pferde,
die man noch zwischen Bahngleisen und Autos an Zügeln herumführt, genau wie die
Fremdkörper, die sie sind. In freier Wildbahn übrigens nicht minder: Erst denke
ich mir noch, wenigstens dort sind sie ja noch frei, dann entlarvt die Kamera
beim Zurückzoomen die Reiter, die links und rechts die Herde flankieren, und
nach ihrem Willen lenken. Ein Pferd blickt, wie so viele andere, direkt in die
Kamera. Letztere fährt näher zu ihm heran, studiert die seltsamen Runen auf
seinem Gesäß: Vernarbte Initialen, die ihm ins Fleisch eingebrannt worden sind.
Heroisch ist nicht mal mehr ihr Tod. Wild kompiliert Huszárik
Schwarzweißphotographien irgendwelcher Kriege. Man weiß nicht recht: Sind da
mehr gefallene Soldaten oder Pferde auf den Schlachtfeldern liegengeblieben? Im
Schlachthaus fällt die Antwort leichter. Der Ton ist nun komplett abgedreht.
Nichts soll mich davon ablenken, wenn ich das Pferd auf seinem letzten Gang begleite. Bevor man den
Hammer schwingt und ihm damit den Schädel einschlägt, bricht sich ein wüstes
Jazz-Getrommel Bahn. Ein Pferd nach dem andern stirbt. Blut sprenkelt die
Schlachthoffliesen, sehr viel Blut. Dazu fährt Huszáriks Kamera an
Straßenlaternen vorbei, deren Koronen die Nacht zerpflücken und kahle
Baumwipfeln erhellen, die im Abendwind schaukeln, und irgendwie ist das noch das
versöhnlichste Bild, das er für sein Mausoleum all der in Mitleidenschaft
gezogener, geschundener, geschlachteter Stuten und Hengste finden kann.
Am Ende von Huszáriks Elegie blicken
wir mit extraterrestrischen Augen auf das, was von der Geschichte (wie von jeder) übrigbleibt:
Sporen, Hufeisen, die als historische Artefakte regelrecht klinisch präsentiert werden, als seien sie entweder Zeugen eines Verbrechens oder kostbare
Kunstexponate, oder beides. Der elektronische Score fiept inzwischen nur noch,
hoch und schrill, während der Abspann läuft, und mich atemlos zurück in jene
Welt führt, die Huszárik derart eindrücklich beschrieben hat – eine Welt, in
der Pferde verdrängt sind an die Peripherie, in Hemisphären, die Experten,
Nerds vorbehalten sind, adoleszenten Mädchen, die Turnierreiterinnen werden
wollen, und Schaustellern, die ihren Pferden Kunststücke beibringen, und sie sie
dann in nach Heu riechenden Zirkuszelten aufführen lassen, und Pferdewirten,
die ihr Geld mit dem Samen wertvoller Hengste verdienen. Bei letzteren bin ich
gewesen, diese eine Nacht, als ich nicht schlafen konnte oder wollte oder
sollte, und an die ich mich gestern erinnert habe, als ich zum ersten Mal den
ersten Film sehe, den der ungarische Regisseur Zoltán Huszárik nach seinem
Filmhochabschluss gedreht hat, ein visuelles Gedicht, dessen
technisch-ästhetischen Einzelpartikel derart homogen ineinandergreifen, dass es
seinem Titel mehr als gerecht wird: Es ist eine Elegie in Bildern, möglicherweise
genauso sehr für die Pferde, die vor unseren Augen und in unseren Gedächtnissen
den Pflug ziehen, das Brandeisen empfangen, das Schlachtermesser in den Hals
bekommen, wie für diejenigen, die all das zu verantworten haben. Eine Elegie
für die Menschlichkeit also? Ich komme mir pathetisch vor.
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