Freitag, 16. Februar 2018

Vom Tod in den Bildern. Auf Gespensterjagd in Bad Wimpfen


Schon lange hat mich keine Photographie mehr derart beeindruckt wie diese. Da ist ein steinernes Stadttor, dessen massive Pfosten das Bild zu beiden Seiten flankieren, und das oben etwa ein Drittel des Kaders für sich beansprucht. Ein Wappen ist dort eingraviert, und darunter baumelt eine Lampe in den Torbogenrahmen hinein, und noch weiter oben kann man kleine Öffnungen wie Schießscharten erkennen. Die Kamera befindet sich außerhalb des Tores, mitten auf einer sich leicht gekrümmt unter dem Bogen hindurch windenden Pflasterstraße, deren Trottoir links und rechts, wäre es nur ein bisschen schmaler, überhaupt nicht erwähnt zu werden bräuchte. Die Stadt, in die die Straße hineinführt, wiederum wirkt wie ausgestorben. Weit im Hintergrund, wo das Gelände unmerklich ansteigt, stemmen sich die Giebel und Dächer von Fachwerkhäusern gegen einen trüben, vergilbten Himmel. Auf der hohen Mauer, die sich rechts von der Straße erhebt, sobald diese das Tor passiert hat, wachsen dichte Büsche, kleine Bäume. Links reihen sich, allerdings durch unseren Standpunkt nur als flächige Linie wahrnehmbar, gedrängte Gebäude, darunter wohl mindestens eine Schänke, wenn ich das Schild richtig interpretiere, das von einer Fassade hervorsteht, und offenbar einen Ziegenbock zeigt, der stolz einen Bierkrug hält. Es wäre schön, das Photo, schwarzweiß, grobkörnig und unheimlich wie viele dieser alten Bilder, bei deren Betrachten man genau hört wie die Dinge knarzen unter der Last der Zeit, die auf ihnen liegt; es wäre schön, ein wenig leblos vielleicht, aber allein die interessante Komposition mit dem Tor im Vordergrund und der Ortschaft dahinter wie etwas, das man durch ein Schlüsselloch sieht, und die Optik dieses Ortes, der schon sehr alt gewesen sein muss, als man die ersten Kameras erfunden hat, und natürlich die Zeit, die sich der Materie des Bildes eingeschrieben hat, hätten mich genügend fasziniert, dass ich es eine Weile mit mir herumgetragen hätte. Was dem Fass aber den Boden ausschlägt, und der Photographie ein Meer an Mehr hinzuaddiert, das sind drei Gestalten, die wirken, als seien sie vom Photographen ganz gezielt auf der Straße platziert worden.

Der Linse am nächsten steht ein kleines Mädchen. Wie alt mag sie sein? Ich bin schlecht darin, das Alter von Kindern zu schätzen. Meine Ex-Freundin war Meisterin darin. Sie sah eins, und wusste sofort: Fünf, oder Sieben, oder Zehn. Aber sie war auch neun Jahre Mutter zu dem Zeitpunkt. Lassen wir das Mädchen auch einfach mal neun sein – damals zumindest: heute ist es tot und begraben. Es trägt einen Hut, und eine (Schul?)tasche in der Rechten, und einen Rock, und ist überhaupt artig genug angezogen, dass ich mir vorstellen kann, die Erwachsenen kneifen es oft in die Wange. Seine Augen sind auf die Kamera gerichtet – und auf mich, was das angeht. Nein, so steht niemand am Straßenrand, der gerade von einem Paparazzo überrascht worden ist. Da sich die zweite Person weiter entfernt befindet, fällt es bei ihr noch schwerer, irgendetwas mit Sicherheit bestimmen zu können. Ist das ein weiteres Mädchen, oder doch ein Bub? Das Kind hat die Arme verschränkt, oder? Für mich sieht es aus, als habe es eine Kapuze übergezogen, und als würde es ebenfalls die Kamera anstarren. Ununterscheidbar bleibt, ob das Kind genau weiß, was das für eine Apparatur ist, und dass sie sein Bild will, und was sie danach mit diesem anzustellen plant, oder ob es mit einer Mischung aus Irritation und Beklemmung die Kamera studiert. Erst ist mir das gar nicht aufgefallen, aber links muss sich noch ein Kind versteckt haben. Nun wird das Photo vollends zu einem Vorläufer dessen, das David Hemmings in Antonionis BLOW UP zu den wildesten Spekulationen verleitet. Ist das wirklich ein Mensch, dort links an der Hausmauer, und sind das wirklich Mädchenschuhe, die ich sich deutlich vom hellen Pflaster abzeichnen zu sehen meine, und ist das wirklich eine Rockfalte, die da frech Richtung Straße flattert, um meine Blicke auf den Körper zu ziehen, den sie bedeckt? Eins weiß ich jedoch: Diese Kinder sind Erwachsene geworden, alt und gebrechlich, und dann gestorben, wenn sie der Tod nicht vor ihrer Zeit erwischt hat. Aber tot sind sie, keine Frage. Noch eins weiß ich: Diese Stadt, das ist Bad Wimpfen, und dieses Tor, das heißt Unteres Tor. Alles Weitere – die genauen Umstände, weshalb das Photo gemacht worden ist, und von wem, und wann genau im Jahr 1905, aus dem die Postkarte datiert ist, die das Bild als Motiv verwendet – hat sich im Kondensationsdunst der Geschichte verloren. 

Wochen, nachdem ich das Photo zum ersten Mal gesehen habe, sitze ich in einer S-Bahn von Heidelberg nach Heilbronn, um dort umzusteigen in eine, die nach Bad Reichenhall weiterfährt. Es hat einen Erdrutsch gegeben, heißt es, und in Bad Wimpfen sei erst einmal Schluss mit der Fahrt, und wenn man weiterkomme wolle, müsse man auf Schienenersatzverkehrsbusse ausweichen. Ich will allerdings gar nicht über Bad Wimpfen hinaus, und blättere, während das Geräusch, das ich inzwischen auf der Welt am meisten verabscheue, das ist, das meine verschnupfte Nase macht, wenn sie sich in Taschentücher entleert, noch einmal in meinen Aufzeichnungen zum Konnex zwischen Tod und Photographie. Roland Barthes schreibt in seinem grundlegenden Essay zum Thema, LA CHAMBRE CLAIRE von 1980: „In einer Gesellschaft muß der Tod irgendwo zu finden sein, wenn nicht mehr (oder in geringerem Maße) in der religiösen Sphäre, dann anderswo; vielleicht in diesem Bild, das den TOD hervorbringt, indem es das Leben aufbewahren will.“ Auch Siegfried Kracauer, etwa ein halbes Jahrhundert zuvor, konstatiert in seinem PHOTOGRAPHIE-Aufsatz von 1927, dass der soziale Gebrauch von Photographien innerhalb der abendländischen Kultur vorrangig diktiert sei von einer unausgesprochenen, gesamt-gesellschaftlichen Todesfurcht und, bewusst oder unbewusst, dazu diene, durch Häufung mimetischer Repräsentationen schlussendlich den Versuch eines Tötens des Todes selbst zu unternehmen. Allerdings markiert er solcherlei Anstrengungen als zutiefst defizitär. „Sie [die photographierte Gegenwart] scheint dem Tod entrissen zu sein; in Wirklichkeit ist sie ihm preisgegeben.“ Konsequent erscheinen ihm Figuren wie die kleinen Mädchen auf der Bad-Wimpfen-Stadttor-Ansicht nicht wie lebendige, lediglich innerhalb des Bildkaders stillgelegte Menschen aus Fleisch und Blut. Für ihn sind es Leichen, Puppen, Mannequins, und, in einer besonders krassen Formulierung, der einstmals Gegenwart gewesene und, mit zunehmender Alterung, nutzlos werdende „Abfall“ der Geschichte, der ursprünglich nicht im Hinblick auf eine mögliche spätere Sinnzuschreibung archiviert worden ist, und deshalb, wie ein beliebiges Schlossgespenst, „komisch und furchtbar zugleich“ wirkt. Walter Benjamin sieht das Ganze ein wenig positiver, wenn er zumindest die frühe Portraitphotographie von ihrem Charakter als sich vorrangig über ihre technische Reproduzierbarkeit definierende Massenware befreit. Allein, weil die photographierten Menschen aufgrund der langen Belichtungszeit nicht nur für einen schnell vorübergehenden Schnappschuss, sondern mitunter minutenlang stillhalten, sprich, ihre eigene zukünftige Existenz als Tote vorwegnehmen mussten, winkt uns, seiner Meinung nach, aus diesen Bildern die Aura, dieses „sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“, ein letztes Mal, bevor die Wahrnehmungsformen der Moderne ihr den finalen Dolchstoß verpassen. Interessanterweise bringt er in seiner KLEINEN GESCHICHTE DER PHOTOGRAPHIE von 1931 ausgerechnet die Paris-Bilder Eugène Atget als Beispiel für die „Befreiung des Objekts von der Aura“ – menschenleere Straßenansichten, die wirken, als seien sie in einer Metropole geschossen werden, die von irgendeiner Katastrophe vollkommen entvölkert worden ist, und die nicht geringe Ähnlichkeit mit meiner Bad-Wimpfen-Photographie hätten – nun, zumindest, wären da die drei kleinen Kinder nicht.

Das Gebiet des heutigen Bad Wimpfens wurde schon zur Zeit der Kelten besiedelt, später dann zur bedeutenden römischen Kastellstadt. Sein bedeutendstes Bauwerk ist die an der Schwelle vom 12. auf das 13. Jh. errichtete Stauferpfalz, bei der es sich, so berichtet mir ein Reiseführer, den ich im örtlichen Touristikbüro einstecke, um die größte noch erhaltene Kaiserpfalz nördlich der Alpen handle. Es folgen – das wiederum kann man auch auf den vielen touristenfreundlichen Tafeln lesen, die in der Altstadt verteilt sind – nach Niedergang der Stauferdynastie die Ernennung zur Freien Reichsstadt, die 1803 aufgehoben wurde, als Wimpfen durch den Reichsdeputationshauptschluss dem Kurfürstentum Hessen zugesprochen wird. Da dessen Landesgrenzen allerdings etwa 40 Kilometer entfernt liegen, kann sich die Stadt weitgehend autonom verwalten – und sich vor allem nach geglückter Versuche zur Soleförderung ab den 1830er Jahren zum Kurbad mausern, das sie dann auch bleibt, nachdem sie nach dem Zweiten Weltkrieg dem neuformierten Bundesland Baden-Württemberg zugesprochen wird. Das Kurbad, heute allerdings Gesundheitszentrum genannt, gibt es noch immer. Es liegt etwas außerhalb der Kernstadt, und hat wohl den am wenig beeindruckendsten Kurpark, den ich jemals gesehen habe. Dafür verliere ich mich in den engen, teilweise extrem steilen Altstadtgassen, die hoch hinauf zu Steilhängen über dem Neckar führen, und in Gaststuben, wo es noch mit Stammtisch-Schildern gekennzeichnete Bereiche gibt, und das einzige vegetarische Gericht ein herkömmlicher Salat ist (immerhin mit Rettich!), und in dem irritierenden Kontrast zwischen Alt- und Neustadt: Kaum hat man nur einen Schritt außerhalb der ehemaligen Stadtmauern getan, blicken einen die gleichen architektonisch auf sehr zweckorientierten, kaum ästhetischen Beinen stehenden Mehrfamilienhäuser an. Aber all das ist nur die Kür zu meinem eigentlichen Anliegen: Einer Spur zu folgen, die das Licht, das drei Körper im Jahre 1905 reflektiert haben, zwischen mir und einem Bild bildet, auf das ich per Zufall im Internet gestoßen bin, und das ich seither nicht mehr aus dem Kopf bekomme. Dass ich das Ende dieser Spur nur wenige Minuten nachdem ich aus der Bahn gestiegen bin, finde, hätte das Potential mich zu enttäuschen haben können, wäre es nicht so überraschend gewesen. Kein langes Suchen und Nachforschen – Entschuldigung, kennen Sie dieses Tor?, kennen Sie diesen Ziegenbock?, kennen Sie diese Kinder? -, stattdessen muss man sich vom Bahnhof nur nach rechts wenden, und schon bringt einen ein Steilweg in die Altstadt hinauf, und direkt unter dem Bogen des Unteren Tors hindurch. Ich bin wie sprachlos. Für einen kurzen Moment ist es wirklich so, als ob man vor einer Sache steht, von der man bislang irgendwie doch noch insgeheim vermutet hat, dass sie in Wirklichkeit gar nicht existiert. Vielleicht hätte sich David Hemmings in Antonionis BLOW UP ähnlich gefühlt, wenn im Parkgebüsch wirklich ein Ermordeter auf ihn gewartet hätte.

Ich habe mich mit einem Salat gestärkt, und einer Katze vor den Mauern der Dominikanerkirche mindestens eine Viertelstunde beim Sich-Putzen zugeschaut, und in den Gassen Bonbons aufgelesen, die wohl vom Faschingsumzug wenige Tage zuvor stammen. Mindestens ein Auto ist drübergerollt. Ich bekomme sie kaum aus der Verpackung. Sie schmecken scheußlich, und meine Finger kleben danach. Wenn ich noch Wimpfen im Tal mit seiner Stiftskirche einen Besuch abstatten möchte, muss ich mich beeilen. Wenigstens bis nach Heilbronn sollte ich heute wieder kommen, will ich nicht erneut alle Pläne über den Haufen werfen. Habe ich nicht bekommen, was ich wollte? Einmal unter dem Tor stehen, es anfassen, feststellen, es ist echt. Langsam laufe ich zu ihm zurück, von hinten diesmal, wie jemand, der etwas im Schilde führt. Ich zögere lange, ob ich ein Photo schießen soll. Es kommt mir wie ein Sakrileg vor. Das liegt nicht so sehr an den Gebäuden. Die sind allesamt relativ guterhalten – überhaupt scheint mir Wimpfen eine der wenigen deutschen Städte zu sein, die ihren Altstadtkern annähernd vollständig über die Jahrhunderte hinweggerettet haben. Was aber stört, das ist der Lieferwagen, der an der linken Straßenseite parkt. Seine Rücklichter blinken, sein Fahrer ist nirgends zu sehen. Schließlich, nachdem ich eine Weile gewartet habe und nichts passiert ist, drücke ich ein Stück weiter unten auf den Auslöser. Als ich mir das Photo abends erstmals anschaue, kann ich an ihm nichts Besonderes finden. Jeder, dem ich es zeigen und die Geschichte dazu erzählen werde, wird mich fragen: Du bist wegen eines verdammten Stadttors in die Gegend von Heilbronn gefahren? Das ist ein Tor wie jedes andere auch! Es stimmt. Nicht die Mauer ist besonders, nicht die Büsche, nicht die Häuser. Vielleicht wäre das Lieferwagen interessant zu werden. Am Abend notiere ich mir die Frage, ob nicht das von der Zeit Getötete dadurch näher am Leben ist, weil es seinen Abschluss gefunden hat, übersetzbar wurde, konsumierbar, auf genügende Distanz, dass es mich in für Außenstehende kaum nachvollziehbare Abenteuer verwickeln kann wie das oben geschilderte, und ob nicht dieses Bild, auch wenn sich ihm die Zeit niemals derart einschreiben kann wie einem analogen, nicht vielleicht doch, irgendwann, wenn ich selbst tot bin, und wenn man es in diesem Blog findet und es neben sein Original hält, irgendwen auf die Idee bringen könnte, seiner Spur zu folgen, die nun immerhin schon eine zweigegabelte ist: Eine führt zu den drei kleinen Kindern, die andere zu mir. „Jede Fotografie ist eine Art memento mori“, schreibt Susan Sontag in ON PHOTOGRAPHY 1976. „Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, daß sie diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche Verfließen der Zeit.“ Wie viel Zeit wirklich vergangen ist zwischen Bad Wimpfen 1905 und Bad Wimpfen 2018 begreife ich erst, als ich später einschlafe. Am nächsten Morgen ist meine Erkältung übrigens wie weggeblasen.


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