Mittwoch, 7. Februar 2018

Zum Beispiel Balthasar oder Die Hagiographie eines Esels

Wer ist eigentlich das junge Mädchen, das sich auf dem Bild oberhalb dieses Textes nach uns umguckt?

Letzten Sommer halte ich mich für einen halben Tag und eine ganze Nacht in einer mitteldeutschen Großstadt auf. Obwohl ich natürlich weiß, dass sie dort geboren wurde, dort aufgewachsen ist, ihre Eltern noch dort leben, hätte ich nicht gedacht, dass die Erinnerungen an jene Frau, mit der ich vor vielen Jahren viele Jahre zusammen gewesen bin, mich, als ich nachts durch die allmählich menschenleer werdende Altstadt spaziere, derart heimsuchen. Auf dieser Brücke da haben wir uns zerknutscht. In dem Drogeriemarkt hier vorne hat sie damals analoge Photographien abgeholt. In jener Straßenbahnlinie sind wir schwarzgefahren, und nur in letzter Not den Kontrolleuern entkommen. Plötzlich summt die ganze Stadt, wie ein Bienenstock oder ein Generator, und ist voller Fragmente, die nur deshalb Teil einer Geschichte sind, weil ich bereits ihr Ende kenne.

Am nächsten Tag, in einem Gasthof, der einige Kilometer entfernt und gegenüber einer Burg liegt, die ihren festen Platz in der deutschen Geschichte hat, stolpere ich über Robert Bressons AU HASARD BALTHAZAR auf einer meiner portablen Festplatten. Der 1966 gedrehte, insgesamt siebte Spielfilm des 1901 geborenen französischen Regisseurs ist ebenfalls eine mit Wehmut durchmischte, aber schöne Erinnerung. Zum ersten Mal gesehen habe ich ihn vor weit über zehn Jahren in einer deutschen Synchronfassung im Spätprogramm von Arte oder 3sat. Ich muss beeindruckt gewesen sein, denn aus dem Kopf gegangen ist der Film mir seitdem nicht wieder. Trotzdem, aufgesucht hatte ich ihn bislang nicht mehr, ganz ähnlich wie diese Stadt, deren Summen ich immer noch höre, trotz der dreißig Kilometer oder mehr zwischen ihr und mir.


Jean-Luc Godard schreibt seinerzeit, AU HASARD BALTHAZAR, das sei die gesamte Welt in neunzig Minuten - ein ganzes Leben: von der Geburt bis zum Tod.

Das kleine Eselchen, das ihnen während der Sommerferien Spielkamerad und Kuscheltier ist, taufen Marie und Jacques auf den Namen Balthazar. Die Ferien enden. Jacques fährt mit seiner Familie zurück in die Stadt. Marie bleibt bei ihrem Vater, einem Schullehrer, auf dem Land. Für Balthazar beginnt ein entbehrungsreiche Leben als Last- und Nutztier. Eines Tages aber gelingt ihm die Flucht von seinen ihn misshandelnden Brotherren. Er erinnert sich an das Haus, in dem er so etwas wie Glück erlebt hat. Marie, inzwischen zur jungen Frau herangewachsen, fällt ihrem geliebten Esel um den Hals. Sie heiratet ihn, in einer weiteren mitternächtlichen Zeremonie, seine langen Ohren geschmückt mit Blumen, ihre Lippen in seinem vertrauten Fell vergraben. Gerard, dem Tunichtgut und Draufgänger des Dorfes, passt es indes gar nicht, dass Maries Zuneigung mehr einem Esel gilt als ihm. Er macht Balthazar zum Sündenbock, verprügelt ihn, entführt ihn schließlich, um Marie dadurch in erpresserischer Absicht für sich zu gewinnen. Schließlich stößt sie seine fordernd tastende Hand nicht mehr weg. Gerard entjungfert sie. Marie wird zu einem Pokal, der in seiner kleinkriminellen Jugendbande herumgereicht wird. Ihr Vater und ihre Amme können nicht verhindern, dass sie sich bald als Prostituierte verdingt. Balthazar wohnt ihrem sozialen Abstieg mit gleichmütigen Blicken bei.

Beim Vorspann erklingt Schuberts zwanzigste Sonate. Der heisere Schrei eines Esels durchbricht ihren würdevollen Wohlklang. Erst nachdem der unsichtbare Rufer geendet hat, klimpert das Klavier weiter, wie um den dissonanten Riss sofort zu kitten.


Balthazar ist krank. Vor dem Hammer, mit dem Gerard ihn erschlagen will, rettet ihn in letzter Sekunde die Intervention des Landstreichers Arnold. Er kauft ihm den Esel ab, zieht mit ihm und einem weiteren Langohr durch die Gegend, schwer alkoholabhängig und sich mittels kleiner Gaunereien mühevoll über Wasser haltend. Wenn er zu viel getrunken hat, vergreift er sich an Balthazar und seinem Leidensgenossen. Erneut gelingt dem Esel die Flucht. Er wird von einem Zirkus aufgegriffen, zur Attraktion für die johlende Menge. Auch Arnold verschlägt es ins Zirkuszelt. Balthazar und er erkennen einander sofort. Der Esel kann so erbärmlich schreien wie er will, er gerät erneut in den Besitz des Trunkenbolds. Sein Martyrium findet erst ein Ende, als Arnold unverhofft Erbe eines beachtlichen Vermögens wird. In Maries Dorf lässt er die Korken knallen. Am nächsten Tag sinkt er tot von Balthazars Rücken. Gerard nimmt sich des Tiers an, und macht ihn zum Komplizen von Schmuggelgeschäften in den Bergen. Als die Grenzposten sie entdecken, fliegen ihnen die Kugeln um die Ohren. Gerard nimmt Reißaus. Nur Balthazar bleibt stoisch stehen, wird getroffen, schleppt sich sterbend zu einer Schafsherde, wo er bei Glöckchenklingeln und Lämmerblöken tot zusammensackt.

Diesen zurückgenommenen, unaufgeregten, für manchen vielleicht sogar herzlosen, frostigen Stil, bei dem die Schauspieler und Schauspielerinnen – allen voran die wundervolle Anne Wiazemsky – wie eingewickelt in ihre Körpertemperaturen bei circa null Grad fixierenden Kühlfolien agierenden, und der die Welt zugleich verrätselt und erklärt, der Distanz schafft zu den Figuren, ihren unterdrückten Leidenschaften, ihren Wünschen, ihren Ängsten, und sie zugleich aber, über den Umweg des Abstands, so dicht wie möglich an uns heranholt, der in jeder Banalität noch einen sakralen Funken findet, und der über das Allerheiligste reden kann wie über eine alltägliche Erscheinung, der Poesie findet im Schlimmsten, und Grausamkeit im Bezauberndsten – diesen Stil kennt man in dieser Konsequenz höchstens noch von Carl Theodor Dreyer oder Michael Haneke. Mit ihnen eint Bresson eine gewisse Stenge und Härte, ein unbarmherziges Stoßen der Kameralinse auf Wunden, die noch zu frisch sind als dass sie schon Schorf angesetzt hätten, die aber innerhalb einer Sekunde umschlagen kann in lyrische Zärtlichkeit, unter deren Eindruck es nicht schwerfällt, die Welt, die uns vor allem von ihren Schattenseiten her vorgeführt wird, vielleicht doch nicht lieben, aber mit etwas Hoffnung beträufeln zu lassen.


Ein Rechtsstreit bricht zwischen Maries und Jacques Vätern los. Maries Vater verwaltet das Gut von Jacques Vater. Im Dorf kursieren Gerüchte. Angeblich soll der Dorfschullehrer den Großteil seiner landwirtschaftlichen Einnahmen in die eigene Tasche stecken. Jacques besucht Marie, um den Konflikt zu schlichten, bevor er eskaliert. Was Bresson, wie so vieles, nicht explizit artikuliert: Offenbar hält Jacques bei Maries Vater um ihre Hand an, um im Gegenzug bei seinem Vater ein gutes Wort für ihn einzulegen. Maries Vater wirft Jacques aus dem Haus. Ob sie einander wiedersehen würden, fragt sie ihn bei der Bank, in deren Holz sie als Kinder ihre beiden Namen und ein Herz geritzt haben. Jacques zuckt nur mit den Schultern, fährt davon. In einem anderen Film hätten Jacques und Marie gar nicht anders gekonnt als den Abspann als Liebespaar zu erreichen. In Bressons Welt, wo die Figuren hilflos dem ausgeliefert sind, was sie an Hemmnissen in sich selbst mitbringen oder was ihre Umgebung ihnen in den Weg wirft, kann nicht mal eine unschuldige Jugendliebe irgendetwas ausrichten. Marie wird zu Gerards Gespielin. Sie gibt sich dem örtlichen Müller für etwas Brot und eine warme Decke hin. Jacques will sie retten. Er sei zu allem bereit, sagt er. Ich heirate Dich, trotz Schimpf und Schande, die an Dir kleben. Maire entgegnet: Du langweilst mich. Jacques bleibt hartnäckig. Gerard gibt sie endlich frei, jedoch nicht ohne sie vorher mit seinen Kumpanen erniedrigt zu haben. Nackt, zitternd, zusammengeschlagen finden Jacques und ihr Vater sie in einem Schuppen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion nimmt Marie Reißaus. Ihrem Vater bricht das Herz. Als der Priester zu seinem Totenbett tritt, dreht er sich brüsk zur Wand. Draußen sitzt Maries Amme. Sie betet zu Gott, ihr nicht auch noch ihren Dienstherrn zu nehmen. Was solle sie – ein treues, simples Herz wie bei Flaubert – ganz allein tun auf der Welt. Einen Schnitt später ist Maries Vater tot. Balthazar wird an Gerard verkauft. Maries Amme erklärt ihn beim Abschiednehmen zum Heiligen.

Bresson verurteilt niemanden, lobt niemanden über Gebühr. Eine ältere Dame, für die Gerard als Schmuggler arbeitet, ist mehr oder minder heimlich in ihn verliebt. Sie schenkt ihm ein Radio. Genau dieses Radio schaltet er ein, nachdem er Marie einmal mehr aus einem nichtigen Grund heraus geohrfeigt hat. Alles ist miteinander verbunden, bezieht sich aufeinander, bürdet einander Schuld auf. Bresson spielt mit Symbolen, Objekten. Er liebt die Leerstellen. Ich muss mir selbst zusammenreimen, wer das kranke Mädchen ist, das zu Beginn des Films dahinsiecht. Wer trägt eigentlich die Schuld an dem Streit, der zwischen Maries und Jacques Vätern losbricht? Ihr Vater, sein Vater, kein Vater? Dabei ist keine Kameraeinstellung, kein Schnitt reiner Zufall oder reine Makulatur. Bresson zeigt genauso viel wie notwendig ist - gerne auch manchmal etwas weniger. Bresson verschweigt genau das, was nicht ausgesprochen werden muss. Er weiß mit Wittgenstein: Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Die Bilder haben so viel zu sagen, und plappern dabei kein bisschen. Bressons Film ist ein dichtes Geflecht, bei dem alles mit allem und jeder mit jedem zusammenhängt. Er ist, sozusagen, die gesamte Welt in neunzig Minuten.



AU HASARD BLATHAZAR ist eine Sammlung von Fragmenten. Das, was sie verbindet, ist allein die Figur des Esels. Scheinbar teilnahmslos und in verblüffender Analogie zu Bressons Kamerapparatur, die ebenfalls ohne tiefschürfende Empathie aufzeichnet, was die physische Realität vor die Linse stellt, beäugt er das Panorama aus verabscheuungswürdigen, wehrlosen, bemitleidenswerten Personen. Er ist Dreh- und Angelpunkt des Geschehens. Er ist ein Spiegel, in dem Gerards Grausamkeit genauso reflektiert wird wie die Schutzbedürftigkeit Maries, die Engstirnigkeit ihres Vaters, die unbeabsichtigte Arroganz Jacques‘. Wenn Marie sich Gerard entzieht, muss der Esel leiden. Wenn Arnold mal wieder zu tief ins Glas geschaut hat, muss der Esel leiden. Die subtilen christlichen Konnotationen, die wir ebenfalls bei Dreyer oder Haneke finden, liegen so nahe, dass sie fast schon nicht mehr subtil sind. Wie Buñuel in seiner modernen Hagiographie NAZARIN zieht Bresson die heiligste aller Erzählungen auf die Ebene des Belanglosen herab, was sie nur noch mehr adelt. Balthazar ist ein Christus mit schnaubenden Nüstern, Hufen und langen Ohren. Er trägt neunzig Minuten lang die Schuld, die Sünde, die Sühne, das Leid der gesamten Welt auf seinen Schultern. Das Schlussbild des Films – der tote Esel inmitten dem wogenden Wollweiß der Schäfchen – ist so schlicht, dass es zu Tränen rührt.

Bei der traumhaften Schwarzweißphotographie muss ich dauernd auch an Philipp Garell denken. Anne Wiazemskys Hände schieben sich von links ins Bild und hinein in das Eselfell. Anne Wiazemsky kniet nackt und geschunden von Gerard und seinen Freunden im hintersten Winkel der Hütte. Anne Wiazemsky muss hilflos zuschauen wie der Esel, den sie gerade zu ihrem Bräutigam gemacht hat, mit Tritten traktiert wird.  

                                     

Für Michael Haneke ist Balthazar "kein zur Identifikation anstiftender Charakter, der uns Gefühle vorlebt, die wir nachempfinden dürfen, sondern eine Projektionsfläche, ein unbeschriebenes Blatt, dessen einzige Aufgabe es ist, mit den Gedanken und Gefühlen des Zuschauers gefüllt zu werden. Dieser Esel spielt uns nicht vor, daß er traurig ist oder leidet, wenn das Leben ihm zusetzt - nicht er weint, wir weinen über eine Ikone der erzwungenen Duldsamkeit, gerade weil sie nicht wie ein Schauspieler mit der Sichtbarmachung ihrer Gefühle hausiert." 

Für mich ist AU HASARD BALTHAZAR einer der schönsten Filme, die jemals gedreht worden sind.

(Dieser Text ist ursprünglich erschienen auf www.deliria-italiano.de)

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