Eine Freundin hatte sich Anfang des
Jahres ein Gartenhaus gekauft. Ich befand mich in Österreich, und sie rief mich
an, um mir erzählen, dass sie, nach Monaten des Suchens, endlich eins gefunden
habe, was ihren Vorstellungen entspricht. Erst Wochen später konnte ich es mir
anschauen. Sie war schon halb eingezogen, hatte begonnen, einen Großteil des
Mobiliars, der Haushaltsgeräte, und irgendwelchen Deko-Plunder nach draußen zu
räumen, den die Vorbesitzer – ein älteres russisches Ehepaar – ihr hinterlassen
hatten. Unter den Fundstücken befanden sich allerhand potentieller
Flohmarktkrempel: Eine etwas verlebte Ledercouch. Ein Stapel Kinderbücher über
die Wunder der menschlichen Anatomie. Eine knallgelbe Plastikrutsche. Porzellanfiguren in einem
glitzrigen Rosa, das an besonders ungesunde Zuckerwatte erinnert. Was mir
jedoch die Sprache verschlug, war ein Objekt, das mich beim ersten Übertreten
der Schwelle vom Kamin aus anguckte: Es handelte sich um ein dreidimensionales
Portrait der Muttergottes in ihrer Aufmachung als Erscheinung von Lourdes. Sie
hält den Rosenkranz in den Händen. Rosenstöcke rahmen sie ein. Hinter ihr
öffnen sich die schroffen Felsen der Grotte von Massabielle. Nur Bernadette
fehlt.
Oder auch nicht, denn durch die Frontalperspektive und vor allem die ungemeine
Plastizität, die erfolgreich sogar den Kampf mit den kitschigen Obertöne des
Bildes aufnimmt, wird der Betrachter oder die Betrachterin unweigerlich in die
Position des unbedarften vierzehnjährigen Mädchens versetzt, dem an einem
Februarmorgen des Jahres 1858 unweit seines Heimatdorfes zum ersten von
insgesamt achtzehn Mal die Heilige Jungfrau beim Holzsammeln begegnet, und das
daraufhin zunächst erst von der Dorfgemeinschaft, den eigenen Eltern, den
lokalen Kirchenautoritäten als Lügnerin oder Geistesgestörte oder noch
schlimmeres bezeichnet wird, dann aber, als sie angeblich auf Geheiß der weißen
Dame, die nur Bernadette allein zu sehen imstande ist, eine bislang verborgene
Quelle freilegt, deren Wasser wiederum Blinde wieder sehend macht und sterbende
Säuglinge ins Leben zurückruft, immer mehr Zuspruch findet, der sich zu wahren
Pilgerströmen in das bislang verschlafene Pyrenäennest auswächst. Wie man weiß,
endet die Geschichte zum einen mit der Installation eines regelrechten Heilstourismus und
Heilskapitalismus in Lourdes, wo noch heute Jahr für Jahr nach physischer und
spiritueller Erlösung lechzende Menschenmassen ihre lahmen Glieder, unheilbaren
Körper oder wunden Herzen in das Quellwasser tauchen, und zum anderen damit, dass
Bernadette als Novizin in den Orden der Barmherzigen Schwestern in Nevers eintritt,
wo sie mit fünfunddreißig Jahren an Knochentuberkulose stirbt. Am 8. Dezember
1933 folgt ihre Aufnahme in den katholischen Heiligenolymp durch Papst Pius XI.
Die Madonna von Lourdes als dreidimensionales Gemälde (Künstler unbekannt), auf meiner Küchencouch |
Warum erschütterte mich aber nun der
Anblick ausgerechnet der Madonna von Lourdes vor ein paar Wochen so sehr, dass
ich erstmal im Dunkel des Gartens meinen Kopf kühlen muss, und mir die Hochhäuser
anschaue, die direkt hnte, vier Stück an der Zahl, in den Himmel wachsen?
Es lag nicht nur daran, dass ich just zu diesem Zeitpunkt – um genau zu sein:
die ganze Zugfahrt von Salzburg nach Deutschland zurück, einen Tag zuvor –
an einem längeren Artikel für die kommenden beiden Ausgaben des 35-Milimeter-Magazins
saß, in dem es genau um das Phänomen Lourdes und seine visuelle Repräsentation im Kino
geht – und zwar in der Hollywood-Fassung von Franz Werfels berühmten
Roman THE SONG OF BERNADETTE von 1942, und dem wundervollen
Experimentalkurzfilm des Belgiers Charles Dekeukeleire, der Lourdes 1932
besuchte, und aus den dort eingefangenen Bildern ein etwa viertelstündiges
Juwel namens VISIONS DE LOURDES formte. Dass ich überhaupt auf die Idee kam,
mich eingehender mit Lourdes zu beschäftigen, führt noch weiter zurück, ins Jahr 2014, als
ich mir in einem wahren Rausch sämtliche Werke des französischen
Schriftstellers Joris-Karl Huysmans zu Gemüte geführt hatte, und vollkommen
verblüfft feststellte, dass sein ehemaliger Mentor und Freund Émile Zola und er
in einem Abstand von nur einem Jahrzehnt beide eine gewisse Zeit in dem
Pyrenäenort verbracht hatten, und ihre dortigen Erlebnisse bei beiden, wenig
verwunderlich, in ausgiebigen literarischen Zeugnissen mündeten: Der kritische
Naturalist Zola, dem es gar nicht schnell genug damit gehen kann, seinen
Landsleuten all den katholischen Hokuspokus auszutreiben, um sie ein positivistisches Zeitalter einläuten sehen zu lassen, schreibt 1894 einen
schlicht LOURDES betitelten Roman, und hinterlässt umfangreiche Notizen seiner
Feldstudien, die erst posthum unter dem Titel MON VOYAGE À LOURDES veröffentlicht werden, während Huysmans, inzwischen zum Katholizismus konvertiert und
gläubiger Christ, 1906 mit dem halb frommen, halb grummeligen Reisebericht LES FOULES DE LOURDES sein letztes
Werk überhaupt publiziert. Was mich besonders faszinierte, waren und sind die Schnittmengen,
in denen sich beide Positionen – eine naturalistische und eine spirituelle -,
trotzdem sie gar nicht weiter auseinanderliegen könnten, dann letztlich doch treffen. In
der Abkanzlung des Devotionalienhandels zum Beispiel, oder in einer tiefen
Menschlichkeit, die beide Schriftsteller zum Ausdruck bringen, wenn sie die
todkranken, von inneren wie äußeren Krankheiten gezeichneten Pilger sich in die
Heilsbäder schleppen sehen.
Aber literaturhistorische Begeisterung
erklärt dennoch nicht, dass ich mich in der Folge in einen regelrechten
Lourdes-Wahn hineinsteigerte. Ich las alles, was ich zu dem Thema finden konnte
– Biographien Bernadettes, die wissenschaftlichen Standards genügen, und
welche, die plumpe Apologien sind, historische Zeugnisse und Studien zu den Wundern, die
das Heilige Wasser angeblich bewirkt haben soll, eine ausführliche Historiographie des Ort
selbst von seiner ersten Erwähnung bis in die Moderne. Ich schaute mir sämtliche relevanten und irrelevanten Filme an, die ich
zu dem Thema finden konnte – über Jessica Hausners großartigen LOURDES von 2009
und die Bernadette-Biographie von Jean Delannoy aus dem Jahre 1988 bis hin zu
reinen Katholizismus-Werbevideos, die auf einschlägigen Bekehrungsseiten
kursieren. Ich bastelte mir selbst eine kleine Lourdes-Grotte, wozu ich einen
Laib Brot aushöhlte, und auf einen Stein klebte, den ich dann ein bisschen mit
Eicheln, Efeu und Moos schmückte, und sodann in seinem Inneren eine
Plastikfigurette fixierte, die wir im Nachlass meiner Großmutter gefunden
hatten, und wo Bernadette in ihrer typischen Pose vor der Gottesmutter kniet.
Hinten im Brot, das in seinem verhärteten Zustand natürlich die Grotte von Massabielle sein sollte, schnitt
ich ein Loch, durch das ich ein kleines Lämpchen hineinfädelte, das wiederum
man mit einer Batterie verbinden kann, und schon wird die Grotte von sakralem
Licht erfüllt. Das reichte mir aber immer noch nicht: Schließlich errichtete ich in
meiner eigenen Wohnung einen Lourdes-Altar aus Baumstämmen, viel Moos,
Prozessionskerzen, und, in seiner Mitte, eine Plastikmadonna. Die war ebenfalls
ein Erbstück, und innen hohl, weil sie als Behältnis für einen Viertelliter des
Originalwassers aus Lourdes diente.
Auch das reichte noch nicht: In den Wochen,
die ich meinen Altar aufbaute, filmte ich mich selbst dabei, dachte die Idee
weiter, drehte schließlich einen etwa halbstündigen Film über jemanden, der seine eigene Wohnung in eine Lourdes-Grotte umfunktioniert, und dort dann Wallfahrten empfängt, und das, scheint es, nicht ohne Eigennutz tut. Der
Ablasspriester, das war natürlich ich selbst, und die Prozessionsteilnehmer
rekrutierte ich aus meinem näheren Umfeld. Ein einziges Mal lief dieser Film,
den ich „re:creating Lourdes“ nannte, in der Öffentlichkeit, kurz danach nämlich, nachdem
ich selbst mit einem überfüllten Wallfahrtsbus nach Lourdes gereist war,
versiegte meine Begeisterung plötzlich. Ich kann sogar den genauen Zeitpunkt
benennen: Es war nachts, und der Strom aus Menschen, Kerzen und gemurmelten
Gebeten wälzte sich auf die Kapelle zu, und ich stellte mir vor, wie das wohl
von außen aussehen mochte, aus der Vogelperspektive, und wusste es natürlich,
weil Dekeukeleire genau ein solches Bild in seinem Kurzfilm zeigt, und
irgendwie war es danach so, als ob ich jetzt, wo ich Teil dieses Ganzen gewesen
sei, irgendwie befriedigt wäre, und weiterziehen könnte, um mich um wichtigere
Dinge zu kümmern.
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Drei Jahre später, im Dezember 2017,
stieß ich beim Aufräumen auf mehrere Mappen voller Aufzeichnungen, die ich mir
während meiner Lourdes-Obsession seinerzeit gemacht hatte: Skizzen, Zitate,
eigene ausformulierte Texte. Ich dachte mir, das wäre doch schade, wenn das nun
einfach bei mir in der Schublade verkommen würde, und entschied mich, etwas für
35Milimeter dafür zu schreiben, ein paar Seiten, denn das würde mir erstmal
reichen, der eigentlich weder Zeit noch Lust hatte, noch einmal Monate seines
Lebens mit einem Phänomen zu verbringen, von der er selbst gar nicht weiß, wie
er nun eigentlich wirklich zu ihm steht. Doch ich werde verfolgt von etwas, das sich nicht so leicht abschütteln zu lassen scheint: Ich schließe besagten Artikel ab, und kehrte in
die Stadt zurück, wo ich meinen Hauptsitz habe, und besuche eine Freundin – und
wer blickt mich vom Kaminsims aus an? Diese Verwicklungen kamen mir noch verrückter vor,
als ich draußen im Garten herumschlenderte, und mir die Hochhäuser gegenüber anschaute, deren
erleuchteten Fenster alles war, was mich die Nacht noch von ihnen sehen ließ,
und die mich an statische Bilder auf einem Filmstreifen erinnerten. Ich erinnerte mich an noch etwas Anderes: In den frühen bis mittleren 90er hatte ein Sohn dieser Stadt genau um jene Hochhäuser herum eine Trilogie von Amateur-Splatterfilmen inszeniert, deren Titel sogar den Namen des Viertels trägt, in dem sich der Garten meiner Freundin befindet. Auf einmal ergaben all die Kontingenzen und Konvergenzen in meinem Kopf nicht unbedingt Sinn, aber trotzdem erschien es mir emotional einleuchtend und schlicht schön, wie sich meine Leidenschaften für spirituelle Grenzgänge, für Fragen der Metaphysik, für historische Prozesse, für Literatur und natürlich für das Kino plötzlich auf derart vielen unterschiedlichen Ebenen ineinander verzahnten.
Einige Tage später schwor ich der dreidimensionale Gottesmutter, die meine Freundin partout loswerden wollte - ("was für ein Kitsch!") -, und die deshalb nunmehr erst einmal Zuflucht in meiner Küche gefunden hat, dass ich dieser Spur weiter folgen möchte, und dass ich dafür einen Blog erstellen werde, um wenigstens das Gefühl zu haben, nicht ganz allein bei meiner Fährtenlesung von was auch immer, für wen auch immer, warum auch immer und wohin auch immer zu sein...
Weshalb ein weiterer Blog in den Weiten des Internets? Die Frage wird sich, hoffe ich, mit der Zeit beantworten.
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