Freitag, 16. Februar 2018

Vom Tod in den Bildern. Auf Gespensterjagd in Bad Wimpfen


Schon lange hat mich keine Photographie mehr derart beeindruckt wie diese. Da ist ein steinernes Stadttor, dessen massive Pfosten das Bild zu beiden Seiten flankieren, und das oben etwa ein Drittel des Kaders für sich beansprucht. Ein Wappen ist dort eingraviert, und darunter baumelt eine Lampe in den Torbogenrahmen hinein, und noch weiter oben kann man kleine Öffnungen wie Schießscharten erkennen. Die Kamera befindet sich außerhalb des Tores, mitten auf einer sich leicht gekrümmt unter dem Bogen hindurch windenden Pflasterstraße, deren Trottoir links und rechts, wäre es nur ein bisschen schmaler, überhaupt nicht erwähnt zu werden bräuchte. Die Stadt, in die die Straße hineinführt, wiederum wirkt wie ausgestorben. Weit im Hintergrund, wo das Gelände unmerklich ansteigt, stemmen sich die Giebel und Dächer von Fachwerkhäusern gegen einen trüben, vergilbten Himmel. Auf der hohen Mauer, die sich rechts von der Straße erhebt, sobald diese das Tor passiert hat, wachsen dichte Büsche, kleine Bäume. Links reihen sich, allerdings durch unseren Standpunkt nur als flächige Linie wahrnehmbar, gedrängte Gebäude, darunter wohl mindestens eine Schänke, wenn ich das Schild richtig interpretiere, das von einer Fassade hervorsteht, und offenbar einen Ziegenbock zeigt, der stolz einen Bierkrug hält. Es wäre schön, das Photo, schwarzweiß, grobkörnig und unheimlich wie viele dieser alten Bilder, bei deren Betrachten man genau hört wie die Dinge knarzen unter der Last der Zeit, die auf ihnen liegt; es wäre schön, ein wenig leblos vielleicht, aber allein die interessante Komposition mit dem Tor im Vordergrund und der Ortschaft dahinter wie etwas, das man durch ein Schlüsselloch sieht, und die Optik dieses Ortes, der schon sehr alt gewesen sein muss, als man die ersten Kameras erfunden hat, und natürlich die Zeit, die sich der Materie des Bildes eingeschrieben hat, hätten mich genügend fasziniert, dass ich es eine Weile mit mir herumgetragen hätte. Was dem Fass aber den Boden ausschlägt, und der Photographie ein Meer an Mehr hinzuaddiert, das sind drei Gestalten, die wirken, als seien sie vom Photographen ganz gezielt auf der Straße platziert worden.

Der Linse am nächsten steht ein kleines Mädchen. Wie alt mag sie sein? Ich bin schlecht darin, das Alter von Kindern zu schätzen. Meine Ex-Freundin war Meisterin darin. Sie sah eins, und wusste sofort: Fünf, oder Sieben, oder Zehn. Aber sie war auch neun Jahre Mutter zu dem Zeitpunkt. Lassen wir das Mädchen auch einfach mal neun sein – damals zumindest: heute ist es tot und begraben. Es trägt einen Hut, und eine (Schul?)tasche in der Rechten, und einen Rock, und ist überhaupt artig genug angezogen, dass ich mir vorstellen kann, die Erwachsenen kneifen es oft in die Wange. Seine Augen sind auf die Kamera gerichtet – und auf mich, was das angeht. Nein, so steht niemand am Straßenrand, der gerade von einem Paparazzo überrascht worden ist. Da sich die zweite Person weiter entfernt befindet, fällt es bei ihr noch schwerer, irgendetwas mit Sicherheit bestimmen zu können. Ist das ein weiteres Mädchen, oder doch ein Bub? Das Kind hat die Arme verschränkt, oder? Für mich sieht es aus, als habe es eine Kapuze übergezogen, und als würde es ebenfalls die Kamera anstarren. Ununterscheidbar bleibt, ob das Kind genau weiß, was das für eine Apparatur ist, und dass sie sein Bild will, und was sie danach mit diesem anzustellen plant, oder ob es mit einer Mischung aus Irritation und Beklemmung die Kamera studiert. Erst ist mir das gar nicht aufgefallen, aber links muss sich noch ein Kind versteckt haben. Nun wird das Photo vollends zu einem Vorläufer dessen, das David Hemmings in Antonionis BLOW UP zu den wildesten Spekulationen verleitet. Ist das wirklich ein Mensch, dort links an der Hausmauer, und sind das wirklich Mädchenschuhe, die ich sich deutlich vom hellen Pflaster abzeichnen zu sehen meine, und ist das wirklich eine Rockfalte, die da frech Richtung Straße flattert, um meine Blicke auf den Körper zu ziehen, den sie bedeckt? Eins weiß ich jedoch: Diese Kinder sind Erwachsene geworden, alt und gebrechlich, und dann gestorben, wenn sie der Tod nicht vor ihrer Zeit erwischt hat. Aber tot sind sie, keine Frage. Noch eins weiß ich: Diese Stadt, das ist Bad Wimpfen, und dieses Tor, das heißt Unteres Tor. Alles Weitere – die genauen Umstände, weshalb das Photo gemacht worden ist, und von wem, und wann genau im Jahr 1905, aus dem die Postkarte datiert ist, die das Bild als Motiv verwendet – hat sich im Kondensationsdunst der Geschichte verloren. 

Wochen, nachdem ich das Photo zum ersten Mal gesehen habe, sitze ich in einer S-Bahn von Heidelberg nach Heilbronn, um dort umzusteigen in eine, die nach Bad Reichenhall weiterfährt. Es hat einen Erdrutsch gegeben, heißt es, und in Bad Wimpfen sei erst einmal Schluss mit der Fahrt, und wenn man weiterkomme wolle, müsse man auf Schienenersatzverkehrsbusse ausweichen. Ich will allerdings gar nicht über Bad Wimpfen hinaus, und blättere, während das Geräusch, das ich inzwischen auf der Welt am meisten verabscheue, das ist, das meine verschnupfte Nase macht, wenn sie sich in Taschentücher entleert, noch einmal in meinen Aufzeichnungen zum Konnex zwischen Tod und Photographie. Roland Barthes schreibt in seinem grundlegenden Essay zum Thema, LA CHAMBRE CLAIRE von 1980: „In einer Gesellschaft muß der Tod irgendwo zu finden sein, wenn nicht mehr (oder in geringerem Maße) in der religiösen Sphäre, dann anderswo; vielleicht in diesem Bild, das den TOD hervorbringt, indem es das Leben aufbewahren will.“ Auch Siegfried Kracauer, etwa ein halbes Jahrhundert zuvor, konstatiert in seinem PHOTOGRAPHIE-Aufsatz von 1927, dass der soziale Gebrauch von Photographien innerhalb der abendländischen Kultur vorrangig diktiert sei von einer unausgesprochenen, gesamt-gesellschaftlichen Todesfurcht und, bewusst oder unbewusst, dazu diene, durch Häufung mimetischer Repräsentationen schlussendlich den Versuch eines Tötens des Todes selbst zu unternehmen. Allerdings markiert er solcherlei Anstrengungen als zutiefst defizitär. „Sie [die photographierte Gegenwart] scheint dem Tod entrissen zu sein; in Wirklichkeit ist sie ihm preisgegeben.“ Konsequent erscheinen ihm Figuren wie die kleinen Mädchen auf der Bad-Wimpfen-Stadttor-Ansicht nicht wie lebendige, lediglich innerhalb des Bildkaders stillgelegte Menschen aus Fleisch und Blut. Für ihn sind es Leichen, Puppen, Mannequins, und, in einer besonders krassen Formulierung, der einstmals Gegenwart gewesene und, mit zunehmender Alterung, nutzlos werdende „Abfall“ der Geschichte, der ursprünglich nicht im Hinblick auf eine mögliche spätere Sinnzuschreibung archiviert worden ist, und deshalb, wie ein beliebiges Schlossgespenst, „komisch und furchtbar zugleich“ wirkt. Walter Benjamin sieht das Ganze ein wenig positiver, wenn er zumindest die frühe Portraitphotographie von ihrem Charakter als sich vorrangig über ihre technische Reproduzierbarkeit definierende Massenware befreit. Allein, weil die photographierten Menschen aufgrund der langen Belichtungszeit nicht nur für einen schnell vorübergehenden Schnappschuss, sondern mitunter minutenlang stillhalten, sprich, ihre eigene zukünftige Existenz als Tote vorwegnehmen mussten, winkt uns, seiner Meinung nach, aus diesen Bildern die Aura, dieses „sonderbares Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein mag“, ein letztes Mal, bevor die Wahrnehmungsformen der Moderne ihr den finalen Dolchstoß verpassen. Interessanterweise bringt er in seiner KLEINEN GESCHICHTE DER PHOTOGRAPHIE von 1931 ausgerechnet die Paris-Bilder Eugène Atget als Beispiel für die „Befreiung des Objekts von der Aura“ – menschenleere Straßenansichten, die wirken, als seien sie in einer Metropole geschossen werden, die von irgendeiner Katastrophe vollkommen entvölkert worden ist, und die nicht geringe Ähnlichkeit mit meiner Bad-Wimpfen-Photographie hätten – nun, zumindest, wären da die drei kleinen Kinder nicht.

Das Gebiet des heutigen Bad Wimpfens wurde schon zur Zeit der Kelten besiedelt, später dann zur bedeutenden römischen Kastellstadt. Sein bedeutendstes Bauwerk ist die an der Schwelle vom 12. auf das 13. Jh. errichtete Stauferpfalz, bei der es sich, so berichtet mir ein Reiseführer, den ich im örtlichen Touristikbüro einstecke, um die größte noch erhaltene Kaiserpfalz nördlich der Alpen handle. Es folgen – das wiederum kann man auch auf den vielen touristenfreundlichen Tafeln lesen, die in der Altstadt verteilt sind – nach Niedergang der Stauferdynastie die Ernennung zur Freien Reichsstadt, die 1803 aufgehoben wurde, als Wimpfen durch den Reichsdeputationshauptschluss dem Kurfürstentum Hessen zugesprochen wird. Da dessen Landesgrenzen allerdings etwa 40 Kilometer entfernt liegen, kann sich die Stadt weitgehend autonom verwalten – und sich vor allem nach geglückter Versuche zur Soleförderung ab den 1830er Jahren zum Kurbad mausern, das sie dann auch bleibt, nachdem sie nach dem Zweiten Weltkrieg dem neuformierten Bundesland Baden-Württemberg zugesprochen wird. Das Kurbad, heute allerdings Gesundheitszentrum genannt, gibt es noch immer. Es liegt etwas außerhalb der Kernstadt, und hat wohl den am wenig beeindruckendsten Kurpark, den ich jemals gesehen habe. Dafür verliere ich mich in den engen, teilweise extrem steilen Altstadtgassen, die hoch hinauf zu Steilhängen über dem Neckar führen, und in Gaststuben, wo es noch mit Stammtisch-Schildern gekennzeichnete Bereiche gibt, und das einzige vegetarische Gericht ein herkömmlicher Salat ist (immerhin mit Rettich!), und in dem irritierenden Kontrast zwischen Alt- und Neustadt: Kaum hat man nur einen Schritt außerhalb der ehemaligen Stadtmauern getan, blicken einen die gleichen architektonisch auf sehr zweckorientierten, kaum ästhetischen Beinen stehenden Mehrfamilienhäuser an. Aber all das ist nur die Kür zu meinem eigentlichen Anliegen: Einer Spur zu folgen, die das Licht, das drei Körper im Jahre 1905 reflektiert haben, zwischen mir und einem Bild bildet, auf das ich per Zufall im Internet gestoßen bin, und das ich seither nicht mehr aus dem Kopf bekomme. Dass ich das Ende dieser Spur nur wenige Minuten nachdem ich aus der Bahn gestiegen bin, finde, hätte das Potential mich zu enttäuschen haben können, wäre es nicht so überraschend gewesen. Kein langes Suchen und Nachforschen – Entschuldigung, kennen Sie dieses Tor?, kennen Sie diesen Ziegenbock?, kennen Sie diese Kinder? -, stattdessen muss man sich vom Bahnhof nur nach rechts wenden, und schon bringt einen ein Steilweg in die Altstadt hinauf, und direkt unter dem Bogen des Unteren Tors hindurch. Ich bin wie sprachlos. Für einen kurzen Moment ist es wirklich so, als ob man vor einer Sache steht, von der man bislang irgendwie doch noch insgeheim vermutet hat, dass sie in Wirklichkeit gar nicht existiert. Vielleicht hätte sich David Hemmings in Antonionis BLOW UP ähnlich gefühlt, wenn im Parkgebüsch wirklich ein Ermordeter auf ihn gewartet hätte.

Ich habe mich mit einem Salat gestärkt, und einer Katze vor den Mauern der Dominikanerkirche mindestens eine Viertelstunde beim Sich-Putzen zugeschaut, und in den Gassen Bonbons aufgelesen, die wohl vom Faschingsumzug wenige Tage zuvor stammen. Mindestens ein Auto ist drübergerollt. Ich bekomme sie kaum aus der Verpackung. Sie schmecken scheußlich, und meine Finger kleben danach. Wenn ich noch Wimpfen im Tal mit seiner Stiftskirche einen Besuch abstatten möchte, muss ich mich beeilen. Wenigstens bis nach Heilbronn sollte ich heute wieder kommen, will ich nicht erneut alle Pläne über den Haufen werfen. Habe ich nicht bekommen, was ich wollte? Einmal unter dem Tor stehen, es anfassen, feststellen, es ist echt. Langsam laufe ich zu ihm zurück, von hinten diesmal, wie jemand, der etwas im Schilde führt. Ich zögere lange, ob ich ein Photo schießen soll. Es kommt mir wie ein Sakrileg vor. Das liegt nicht so sehr an den Gebäuden. Die sind allesamt relativ guterhalten – überhaupt scheint mir Wimpfen eine der wenigen deutschen Städte zu sein, die ihren Altstadtkern annähernd vollständig über die Jahrhunderte hinweggerettet haben. Was aber stört, das ist der Lieferwagen, der an der linken Straßenseite parkt. Seine Rücklichter blinken, sein Fahrer ist nirgends zu sehen. Schließlich, nachdem ich eine Weile gewartet habe und nichts passiert ist, drücke ich ein Stück weiter unten auf den Auslöser. Als ich mir das Photo abends erstmals anschaue, kann ich an ihm nichts Besonderes finden. Jeder, dem ich es zeigen und die Geschichte dazu erzählen werde, wird mich fragen: Du bist wegen eines verdammten Stadttors in die Gegend von Heilbronn gefahren? Das ist ein Tor wie jedes andere auch! Es stimmt. Nicht die Mauer ist besonders, nicht die Büsche, nicht die Häuser. Vielleicht wäre das Lieferwagen interessant zu werden. Am Abend notiere ich mir die Frage, ob nicht das von der Zeit Getötete dadurch näher am Leben ist, weil es seinen Abschluss gefunden hat, übersetzbar wurde, konsumierbar, auf genügende Distanz, dass es mich in für Außenstehende kaum nachvollziehbare Abenteuer verwickeln kann wie das oben geschilderte, und ob nicht dieses Bild, auch wenn sich ihm die Zeit niemals derart einschreiben kann wie einem analogen, nicht vielleicht doch, irgendwann, wenn ich selbst tot bin, und wenn man es in diesem Blog findet und es neben sein Original hält, irgendwen auf die Idee bringen könnte, seiner Spur zu folgen, die nun immerhin schon eine zweigegabelte ist: Eine führt zu den drei kleinen Kindern, die andere zu mir. „Jede Fotografie ist eine Art memento mori“, schreibt Susan Sontag in ON PHOTOGRAPHY 1976. „Fotografieren bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, daß sie diesen einen Moment herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche Verfließen der Zeit.“ Wie viel Zeit wirklich vergangen ist zwischen Bad Wimpfen 1905 und Bad Wimpfen 2018 begreife ich erst, als ich später einschlafe. Am nächsten Morgen ist meine Erkältung übrigens wie weggeblasen.


Mittwoch, 7. Februar 2018

Zum Beispiel Balthasar oder Die Hagiographie eines Esels

Wer ist eigentlich das junge Mädchen, das sich auf dem Bild oberhalb dieses Textes nach uns umguckt?

Letzten Sommer halte ich mich für einen halben Tag und eine ganze Nacht in einer mitteldeutschen Großstadt auf. Obwohl ich natürlich weiß, dass sie dort geboren wurde, dort aufgewachsen ist, ihre Eltern noch dort leben, hätte ich nicht gedacht, dass die Erinnerungen an jene Frau, mit der ich vor vielen Jahren viele Jahre zusammen gewesen bin, mich, als ich nachts durch die allmählich menschenleer werdende Altstadt spaziere, derart heimsuchen. Auf dieser Brücke da haben wir uns zerknutscht. In dem Drogeriemarkt hier vorne hat sie damals analoge Photographien abgeholt. In jener Straßenbahnlinie sind wir schwarzgefahren, und nur in letzter Not den Kontrolleuern entkommen. Plötzlich summt die ganze Stadt, wie ein Bienenstock oder ein Generator, und ist voller Fragmente, die nur deshalb Teil einer Geschichte sind, weil ich bereits ihr Ende kenne.

Am nächsten Tag, in einem Gasthof, der einige Kilometer entfernt und gegenüber einer Burg liegt, die ihren festen Platz in der deutschen Geschichte hat, stolpere ich über Robert Bressons AU HASARD BALTHAZAR auf einer meiner portablen Festplatten. Der 1966 gedrehte, insgesamt siebte Spielfilm des 1901 geborenen französischen Regisseurs ist ebenfalls eine mit Wehmut durchmischte, aber schöne Erinnerung. Zum ersten Mal gesehen habe ich ihn vor weit über zehn Jahren in einer deutschen Synchronfassung im Spätprogramm von Arte oder 3sat. Ich muss beeindruckt gewesen sein, denn aus dem Kopf gegangen ist der Film mir seitdem nicht wieder. Trotzdem, aufgesucht hatte ich ihn bislang nicht mehr, ganz ähnlich wie diese Stadt, deren Summen ich immer noch höre, trotz der dreißig Kilometer oder mehr zwischen ihr und mir.


Jean-Luc Godard schreibt seinerzeit, AU HASARD BALTHAZAR, das sei die gesamte Welt in neunzig Minuten - ein ganzes Leben: von der Geburt bis zum Tod.

Das kleine Eselchen, das ihnen während der Sommerferien Spielkamerad und Kuscheltier ist, taufen Marie und Jacques auf den Namen Balthazar. Die Ferien enden. Jacques fährt mit seiner Familie zurück in die Stadt. Marie bleibt bei ihrem Vater, einem Schullehrer, auf dem Land. Für Balthazar beginnt ein entbehrungsreiche Leben als Last- und Nutztier. Eines Tages aber gelingt ihm die Flucht von seinen ihn misshandelnden Brotherren. Er erinnert sich an das Haus, in dem er so etwas wie Glück erlebt hat. Marie, inzwischen zur jungen Frau herangewachsen, fällt ihrem geliebten Esel um den Hals. Sie heiratet ihn, in einer weiteren mitternächtlichen Zeremonie, seine langen Ohren geschmückt mit Blumen, ihre Lippen in seinem vertrauten Fell vergraben. Gerard, dem Tunichtgut und Draufgänger des Dorfes, passt es indes gar nicht, dass Maries Zuneigung mehr einem Esel gilt als ihm. Er macht Balthazar zum Sündenbock, verprügelt ihn, entführt ihn schließlich, um Marie dadurch in erpresserischer Absicht für sich zu gewinnen. Schließlich stößt sie seine fordernd tastende Hand nicht mehr weg. Gerard entjungfert sie. Marie wird zu einem Pokal, der in seiner kleinkriminellen Jugendbande herumgereicht wird. Ihr Vater und ihre Amme können nicht verhindern, dass sie sich bald als Prostituierte verdingt. Balthazar wohnt ihrem sozialen Abstieg mit gleichmütigen Blicken bei.

Beim Vorspann erklingt Schuberts zwanzigste Sonate. Der heisere Schrei eines Esels durchbricht ihren würdevollen Wohlklang. Erst nachdem der unsichtbare Rufer geendet hat, klimpert das Klavier weiter, wie um den dissonanten Riss sofort zu kitten.


Balthazar ist krank. Vor dem Hammer, mit dem Gerard ihn erschlagen will, rettet ihn in letzter Sekunde die Intervention des Landstreichers Arnold. Er kauft ihm den Esel ab, zieht mit ihm und einem weiteren Langohr durch die Gegend, schwer alkoholabhängig und sich mittels kleiner Gaunereien mühevoll über Wasser haltend. Wenn er zu viel getrunken hat, vergreift er sich an Balthazar und seinem Leidensgenossen. Erneut gelingt dem Esel die Flucht. Er wird von einem Zirkus aufgegriffen, zur Attraktion für die johlende Menge. Auch Arnold verschlägt es ins Zirkuszelt. Balthazar und er erkennen einander sofort. Der Esel kann so erbärmlich schreien wie er will, er gerät erneut in den Besitz des Trunkenbolds. Sein Martyrium findet erst ein Ende, als Arnold unverhofft Erbe eines beachtlichen Vermögens wird. In Maries Dorf lässt er die Korken knallen. Am nächsten Tag sinkt er tot von Balthazars Rücken. Gerard nimmt sich des Tiers an, und macht ihn zum Komplizen von Schmuggelgeschäften in den Bergen. Als die Grenzposten sie entdecken, fliegen ihnen die Kugeln um die Ohren. Gerard nimmt Reißaus. Nur Balthazar bleibt stoisch stehen, wird getroffen, schleppt sich sterbend zu einer Schafsherde, wo er bei Glöckchenklingeln und Lämmerblöken tot zusammensackt.

Diesen zurückgenommenen, unaufgeregten, für manchen vielleicht sogar herzlosen, frostigen Stil, bei dem die Schauspieler und Schauspielerinnen – allen voran die wundervolle Anne Wiazemsky – wie eingewickelt in ihre Körpertemperaturen bei circa null Grad fixierenden Kühlfolien agierenden, und der die Welt zugleich verrätselt und erklärt, der Distanz schafft zu den Figuren, ihren unterdrückten Leidenschaften, ihren Wünschen, ihren Ängsten, und sie zugleich aber, über den Umweg des Abstands, so dicht wie möglich an uns heranholt, der in jeder Banalität noch einen sakralen Funken findet, und der über das Allerheiligste reden kann wie über eine alltägliche Erscheinung, der Poesie findet im Schlimmsten, und Grausamkeit im Bezauberndsten – diesen Stil kennt man in dieser Konsequenz höchstens noch von Carl Theodor Dreyer oder Michael Haneke. Mit ihnen eint Bresson eine gewisse Stenge und Härte, ein unbarmherziges Stoßen der Kameralinse auf Wunden, die noch zu frisch sind als dass sie schon Schorf angesetzt hätten, die aber innerhalb einer Sekunde umschlagen kann in lyrische Zärtlichkeit, unter deren Eindruck es nicht schwerfällt, die Welt, die uns vor allem von ihren Schattenseiten her vorgeführt wird, vielleicht doch nicht lieben, aber mit etwas Hoffnung beträufeln zu lassen.


Ein Rechtsstreit bricht zwischen Maries und Jacques Vätern los. Maries Vater verwaltet das Gut von Jacques Vater. Im Dorf kursieren Gerüchte. Angeblich soll der Dorfschullehrer den Großteil seiner landwirtschaftlichen Einnahmen in die eigene Tasche stecken. Jacques besucht Marie, um den Konflikt zu schlichten, bevor er eskaliert. Was Bresson, wie so vieles, nicht explizit artikuliert: Offenbar hält Jacques bei Maries Vater um ihre Hand an, um im Gegenzug bei seinem Vater ein gutes Wort für ihn einzulegen. Maries Vater wirft Jacques aus dem Haus. Ob sie einander wiedersehen würden, fragt sie ihn bei der Bank, in deren Holz sie als Kinder ihre beiden Namen und ein Herz geritzt haben. Jacques zuckt nur mit den Schultern, fährt davon. In einem anderen Film hätten Jacques und Marie gar nicht anders gekonnt als den Abspann als Liebespaar zu erreichen. In Bressons Welt, wo die Figuren hilflos dem ausgeliefert sind, was sie an Hemmnissen in sich selbst mitbringen oder was ihre Umgebung ihnen in den Weg wirft, kann nicht mal eine unschuldige Jugendliebe irgendetwas ausrichten. Marie wird zu Gerards Gespielin. Sie gibt sich dem örtlichen Müller für etwas Brot und eine warme Decke hin. Jacques will sie retten. Er sei zu allem bereit, sagt er. Ich heirate Dich, trotz Schimpf und Schande, die an Dir kleben. Maire entgegnet: Du langweilst mich. Jacques bleibt hartnäckig. Gerard gibt sie endlich frei, jedoch nicht ohne sie vorher mit seinen Kumpanen erniedrigt zu haben. Nackt, zitternd, zusammengeschlagen finden Jacques und ihr Vater sie in einem Schuppen. In einer Nacht-und-Nebel-Aktion nimmt Marie Reißaus. Ihrem Vater bricht das Herz. Als der Priester zu seinem Totenbett tritt, dreht er sich brüsk zur Wand. Draußen sitzt Maries Amme. Sie betet zu Gott, ihr nicht auch noch ihren Dienstherrn zu nehmen. Was solle sie – ein treues, simples Herz wie bei Flaubert – ganz allein tun auf der Welt. Einen Schnitt später ist Maries Vater tot. Balthazar wird an Gerard verkauft. Maries Amme erklärt ihn beim Abschiednehmen zum Heiligen.

Bresson verurteilt niemanden, lobt niemanden über Gebühr. Eine ältere Dame, für die Gerard als Schmuggler arbeitet, ist mehr oder minder heimlich in ihn verliebt. Sie schenkt ihm ein Radio. Genau dieses Radio schaltet er ein, nachdem er Marie einmal mehr aus einem nichtigen Grund heraus geohrfeigt hat. Alles ist miteinander verbunden, bezieht sich aufeinander, bürdet einander Schuld auf. Bresson spielt mit Symbolen, Objekten. Er liebt die Leerstellen. Ich muss mir selbst zusammenreimen, wer das kranke Mädchen ist, das zu Beginn des Films dahinsiecht. Wer trägt eigentlich die Schuld an dem Streit, der zwischen Maries und Jacques Vätern losbricht? Ihr Vater, sein Vater, kein Vater? Dabei ist keine Kameraeinstellung, kein Schnitt reiner Zufall oder reine Makulatur. Bresson zeigt genauso viel wie notwendig ist - gerne auch manchmal etwas weniger. Bresson verschweigt genau das, was nicht ausgesprochen werden muss. Er weiß mit Wittgenstein: Worüber man nicht reden kann, darüber muss man schweigen. Die Bilder haben so viel zu sagen, und plappern dabei kein bisschen. Bressons Film ist ein dichtes Geflecht, bei dem alles mit allem und jeder mit jedem zusammenhängt. Er ist, sozusagen, die gesamte Welt in neunzig Minuten.



AU HASARD BLATHAZAR ist eine Sammlung von Fragmenten. Das, was sie verbindet, ist allein die Figur des Esels. Scheinbar teilnahmslos und in verblüffender Analogie zu Bressons Kamerapparatur, die ebenfalls ohne tiefschürfende Empathie aufzeichnet, was die physische Realität vor die Linse stellt, beäugt er das Panorama aus verabscheuungswürdigen, wehrlosen, bemitleidenswerten Personen. Er ist Dreh- und Angelpunkt des Geschehens. Er ist ein Spiegel, in dem Gerards Grausamkeit genauso reflektiert wird wie die Schutzbedürftigkeit Maries, die Engstirnigkeit ihres Vaters, die unbeabsichtigte Arroganz Jacques‘. Wenn Marie sich Gerard entzieht, muss der Esel leiden. Wenn Arnold mal wieder zu tief ins Glas geschaut hat, muss der Esel leiden. Die subtilen christlichen Konnotationen, die wir ebenfalls bei Dreyer oder Haneke finden, liegen so nahe, dass sie fast schon nicht mehr subtil sind. Wie Buñuel in seiner modernen Hagiographie NAZARIN zieht Bresson die heiligste aller Erzählungen auf die Ebene des Belanglosen herab, was sie nur noch mehr adelt. Balthazar ist ein Christus mit schnaubenden Nüstern, Hufen und langen Ohren. Er trägt neunzig Minuten lang die Schuld, die Sünde, die Sühne, das Leid der gesamten Welt auf seinen Schultern. Das Schlussbild des Films – der tote Esel inmitten dem wogenden Wollweiß der Schäfchen – ist so schlicht, dass es zu Tränen rührt.

Bei der traumhaften Schwarzweißphotographie muss ich dauernd auch an Philipp Garell denken. Anne Wiazemskys Hände schieben sich von links ins Bild und hinein in das Eselfell. Anne Wiazemsky kniet nackt und geschunden von Gerard und seinen Freunden im hintersten Winkel der Hütte. Anne Wiazemsky muss hilflos zuschauen wie der Esel, den sie gerade zu ihrem Bräutigam gemacht hat, mit Tritten traktiert wird.  

                                     

Für Michael Haneke ist Balthazar "kein zur Identifikation anstiftender Charakter, der uns Gefühle vorlebt, die wir nachempfinden dürfen, sondern eine Projektionsfläche, ein unbeschriebenes Blatt, dessen einzige Aufgabe es ist, mit den Gedanken und Gefühlen des Zuschauers gefüllt zu werden. Dieser Esel spielt uns nicht vor, daß er traurig ist oder leidet, wenn das Leben ihm zusetzt - nicht er weint, wir weinen über eine Ikone der erzwungenen Duldsamkeit, gerade weil sie nicht wie ein Schauspieler mit der Sichtbarmachung ihrer Gefühle hausiert." 

Für mich ist AU HASARD BALTHAZAR einer der schönsten Filme, die jemals gedreht worden sind.

(Dieser Text ist ursprünglich erschienen auf www.deliria-italiano.de)

Freitag, 2. Februar 2018

Notre cinéma à Lourdes. Eine Geschichte und eine Ankündigung

Weshalb ein weiterer Blog in den Weiten des Internets?

Eine Freundin hatte sich Anfang des Jahres ein Gartenhaus gekauft. Ich befand mich in Österreich, und sie rief mich an, um mir erzählen, dass sie, nach Monaten des Suchens, endlich eins gefunden habe, was ihren Vorstellungen entspricht. Erst Wochen später konnte ich es mir anschauen. Sie war schon halb eingezogen, hatte begonnen, einen Großteil des Mobiliars, der Haushaltsgeräte, und irgendwelchen Deko-Plunder nach draußen zu räumen, den die Vorbesitzer – ein älteres russisches Ehepaar – ihr hinterlassen hatten. Unter den Fundstücken befanden sich allerhand potentieller Flohmarktkrempel: Eine etwas verlebte Ledercouch. Ein Stapel Kinderbücher über die Wunder der menschlichen Anatomie. Eine knallgelbe Plastikrutsche. Porzellanfiguren in einem glitzrigen Rosa, das an besonders ungesunde Zuckerwatte erinnert. Was mir jedoch die Sprache verschlug, war ein Objekt, das mich beim ersten Übertreten der Schwelle vom Kamin aus anguckte: Es handelte sich um ein dreidimensionales Portrait der Muttergottes in ihrer Aufmachung als Erscheinung von Lourdes. Sie hält den Rosenkranz in den Händen. Rosenstöcke rahmen sie ein. Hinter ihr öffnen sich die schroffen Felsen der Grotte von Massabielle. Nur Bernadette fehlt. 

Oder auch nicht, denn durch die Frontalperspektive und vor allem die ungemeine Plastizität, die erfolgreich sogar den Kampf mit den kitschigen Obertöne des Bildes aufnimmt, wird der Betrachter oder die Betrachterin unweigerlich in die Position des unbedarften vierzehnjährigen Mädchens versetzt, dem an einem Februarmorgen des Jahres 1858 unweit seines Heimatdorfes zum ersten von insgesamt achtzehn Mal die Heilige Jungfrau beim Holzsammeln begegnet, und das daraufhin zunächst erst von der Dorfgemeinschaft, den eigenen Eltern, den lokalen Kirchenautoritäten als Lügnerin oder Geistesgestörte oder noch schlimmeres bezeichnet wird, dann aber, als sie angeblich auf Geheiß der weißen Dame, die nur Bernadette allein zu sehen imstande ist, eine bislang verborgene Quelle freilegt, deren Wasser wiederum Blinde wieder sehend macht und sterbende Säuglinge ins Leben zurückruft, immer mehr Zuspruch findet, der sich zu wahren Pilgerströmen in das bislang verschlafene Pyrenäennest auswächst. Wie man weiß, endet die Geschichte zum einen mit der Installation eines regelrechten Heilstourismus und Heilskapitalismus in Lourdes, wo noch heute Jahr für Jahr nach physischer und spiritueller Erlösung lechzende Menschenmassen ihre lahmen Glieder, unheilbaren Körper oder wunden Herzen in das Quellwasser tauchen, und zum anderen damit, dass Bernadette als Novizin in den Orden der Barmherzigen Schwestern in Nevers eintritt, wo sie mit fünfunddreißig Jahren an Knochentuberkulose stirbt. Am 8. Dezember 1933 folgt ihre Aufnahme in den katholischen Heiligenolymp durch Papst Pius XI.

Die Madonna von Lourdes als dreidimensionales Gemälde (Künstler unbekannt), auf meiner Küchencouch

Warum erschütterte mich aber nun der Anblick ausgerechnet der Madonna von Lourdes vor ein paar Wochen so sehr, dass ich erstmal im Dunkel des Gartens meinen Kopf kühlen muss, und mir die Hochhäuser anschaue, die direkt hnte, vier Stück an der Zahl, in den Himmel wachsen? Es lag nicht nur daran, dass ich just zu diesem Zeitpunkt – um genau zu sein: die ganze Zugfahrt von Salzburg nach Deutschland zurück, einen Tag zuvor – an einem längeren Artikel für die kommenden beiden Ausgaben des 35-Milimeter-Magazins saß, in dem es genau um das Phänomen Lourdes und seine visuelle Repräsentation im Kino geht – und zwar in der Hollywood-Fassung von Franz Werfels berühmten Roman THE SONG OF BERNADETTE von 1942, und dem wundervollen Experimentalkurzfilm des Belgiers Charles Dekeukeleire, der Lourdes 1932 besuchte, und aus den dort eingefangenen Bildern ein etwa viertelstündiges Juwel namens VISIONS DE LOURDES formte. Dass ich überhaupt auf die Idee kam, mich eingehender mit Lourdes zu beschäftigen, führt noch weiter zurück, ins Jahr 2014, als ich mir in einem wahren Rausch sämtliche Werke des französischen Schriftstellers Joris-Karl Huysmans zu Gemüte geführt hatte, und vollkommen verblüfft feststellte, dass sein ehemaliger Mentor und Freund Émile Zola und er in einem Abstand von nur einem Jahrzehnt beide eine gewisse Zeit in dem Pyrenäenort verbracht hatten, und ihre dortigen Erlebnisse bei beiden, wenig verwunderlich, in ausgiebigen literarischen Zeugnissen mündeten: Der kritische Naturalist Zola, dem es gar nicht schnell genug damit gehen kann, seinen Landsleuten all den katholischen Hokuspokus auszutreiben, um sie ein positivistisches Zeitalter einläuten sehen zu lassen, schreibt 1894 einen schlicht LOURDES betitelten Roman, und hinterlässt umfangreiche Notizen seiner Feldstudien, die erst posthum unter dem Titel MON VOYAGE À LOURDES veröffentlicht werden, während Huysmans, inzwischen zum Katholizismus konvertiert und gläubiger Christ, 1906 mit dem halb frommen, halb grummeligen Reisebericht LES FOULES DE LOURDES sein letztes Werk überhaupt publiziert. Was mich besonders faszinierte, waren und sind die Schnittmengen, in denen sich beide Positionen – eine naturalistische und eine spirituelle -, trotzdem sie gar nicht weiter auseinanderliegen könnten, dann letztlich doch treffen. In der Abkanzlung des Devotionalienhandels zum Beispiel, oder in einer tiefen Menschlichkeit, die beide Schriftsteller zum Ausdruck bringen, wenn sie die todkranken, von inneren wie äußeren Krankheiten gezeichneten Pilger sich in die Heilsbäder schleppen sehen.

Aber literaturhistorische Begeisterung erklärt dennoch nicht, dass ich mich in der Folge in einen regelrechten Lourdes-Wahn hineinsteigerte. Ich las alles, was ich zu dem Thema finden konnte – Biographien Bernadettes, die wissenschaftlichen Standards genügen, und welche, die plumpe Apologien sind, historische Zeugnisse und Studien zu den Wundern, die das Heilige Wasser angeblich bewirkt haben soll, eine ausführliche Historiographie des Ort selbst von seiner ersten Erwähnung bis in die Moderne. Ich schaute mir sämtliche relevanten und irrelevanten Filme an, die ich zu dem Thema finden konnte – über Jessica Hausners großartigen LOURDES von 2009 und die Bernadette-Biographie von Jean Delannoy aus dem Jahre 1988 bis hin zu reinen Katholizismus-Werbevideos, die auf einschlägigen Bekehrungsseiten kursieren. Ich bastelte mir selbst eine kleine Lourdes-Grotte, wozu ich einen Laib Brot aushöhlte, und auf einen Stein klebte, den ich dann ein bisschen mit Eicheln, Efeu und Moos schmückte, und sodann in seinem Inneren eine Plastikfigurette fixierte, die wir im Nachlass meiner Großmutter gefunden hatten, und wo Bernadette in ihrer typischen Pose vor der Gottesmutter kniet. Hinten im Brot, das in seinem verhärteten Zustand natürlich die Grotte von Massabielle sein sollte, schnitt ich ein Loch, durch das ich ein kleines Lämpchen hineinfädelte, das wiederum man mit einer Batterie verbinden kann, und schon wird die Grotte von sakralem Licht erfüllt. Das reichte mir aber immer noch nicht: Schließlich errichtete ich in meiner eigenen Wohnung einen Lourdes-Altar aus Baumstämmen, viel Moos, Prozessionskerzen, und, in seiner Mitte, eine Plastikmadonna. Die war ebenfalls ein Erbstück, und innen hohl, weil sie als Behältnis für einen Viertelliter des Originalwassers aus Lourdes diente. 

Auch das reichte noch nicht: In den Wochen, die ich meinen Altar aufbaute, filmte ich mich selbst dabei, dachte die Idee weiter, drehte schließlich einen etwa halbstündigen Film über jemanden, der seine eigene Wohnung in eine Lourdes-Grotte umfunktioniert, und dort dann Wallfahrten empfängt, und das, scheint es, nicht ohne Eigennutz tut. Der Ablasspriester, das war natürlich ich selbst, und die Prozessionsteilnehmer rekrutierte ich aus meinem näheren Umfeld. Ein einziges Mal lief dieser Film, den ich „re:creating Lourdes“ nannte, in der Öffentlichkeit, kurz danach nämlich, nachdem ich selbst  mit einem überfüllten Wallfahrtsbus nach Lourdes gereist war, versiegte meine Begeisterung plötzlich. Ich kann sogar den genauen Zeitpunkt benennen: Es war nachts, und der Strom aus Menschen, Kerzen und gemurmelten Gebeten wälzte sich auf die Kapelle zu, und ich stellte mir vor, wie das wohl von außen aussehen mochte, aus der Vogelperspektive, und wusste es natürlich, weil Dekeukeleire genau ein solches Bild in seinem Kurzfilm zeigt, und irgendwie war es danach so, als ob ich jetzt, wo ich Teil dieses Ganzen gewesen sei, irgendwie befriedigt wäre, und weiterziehen könnte, um mich um wichtigere Dinge zu kümmern.


Die Grotte von Massabielle als Konstruktion aus Brot, Pilzen, Moos, Stein und einem Lämpchen (Künstler bekannt)
Drei Jahre später, im Dezember 2017, stieß ich beim Aufräumen auf mehrere Mappen voller Aufzeichnungen, die ich mir während meiner Lourdes-Obsession seinerzeit gemacht hatte: Skizzen, Zitate, eigene ausformulierte Texte. Ich dachte mir, das wäre doch schade, wenn das nun einfach bei mir in der Schublade verkommen würde, und entschied mich, etwas für 35Milimeter dafür zu schreiben, ein paar Seiten, denn das würde mir erstmal reichen, der eigentlich weder Zeit noch Lust hatte, noch einmal Monate seines Lebens mit einem Phänomen zu verbringen, von der er selbst gar nicht weiß, wie er nun eigentlich wirklich zu ihm steht. Doch ich werde verfolgt von etwas, das sich nicht so leicht abschütteln zu lassen scheint: Ich schließe besagten Artikel ab, und kehrte in die Stadt zurück, wo ich meinen Hauptsitz habe, und besuche eine Freundin – und wer blickt mich vom Kaminsims aus an? Diese Verwicklungen kamen mir noch verrückter vor, als ich draußen im Garten herumschlenderte, und mir die Hochhäuser gegenüber anschaute, deren erleuchteten Fenster alles war, was mich die Nacht noch von ihnen sehen ließ, und die mich an statische Bilder auf einem Filmstreifen erinnerten. Ich erinnerte mich an noch etwas Anderes: In den frühen bis mittleren 90er hatte ein Sohn dieser Stadt genau um jene Hochhäuser herum eine Trilogie von Amateur-Splatterfilmen inszeniert, deren Titel sogar den Namen des Viertels trägt, in dem sich der Garten meiner Freundin befindet. Auf einmal ergaben all die Kontingenzen und Konvergenzen in meinem Kopf nicht unbedingt Sinn, aber trotzdem erschien es mir emotional einleuchtend und schlicht schön, wie sich meine Leidenschaften für spirituelle Grenzgänge, für Fragen der Metaphysik, für historische Prozesse, für Literatur und natürlich für das Kino plötzlich auf derart vielen unterschiedlichen Ebenen ineinander verzahnten. 

Einige Tage später schwor ich der dreidimensionale Gottesmutter, die meine Freundin partout loswerden wollte - ("was für ein Kitsch!") -, und die deshalb nunmehr erst einmal Zuflucht in meiner Küche gefunden hat, dass ich dieser Spur weiter folgen möchte, und dass ich dafür einen Blog erstellen werde, um wenigstens das Gefühl zu haben, nicht ganz allein bei meiner Fährtenlesung von was auch immer, für wen auch immer, warum auch immer und wohin auch immer zu sein...
 
Weshalb ein weiterer Blog in den Weiten des Internets? Die Frage wird sich, hoffe ich, mit der Zeit beantworten.