Schon lange hat mich keine
Photographie mehr derart beeindruckt wie diese. Da ist ein steinernes Stadttor,
dessen massive Pfosten das Bild zu beiden Seiten flankieren, und das oben etwa
ein Drittel des Kaders für sich beansprucht. Ein Wappen ist dort eingraviert,
und darunter baumelt eine Lampe in den Torbogenrahmen hinein, und noch weiter
oben kann man kleine Öffnungen wie Schießscharten erkennen. Die Kamera befindet
sich außerhalb des Tores, mitten auf einer sich leicht gekrümmt unter dem Bogen
hindurch windenden Pflasterstraße, deren Trottoir links und rechts, wäre es nur
ein bisschen schmaler, überhaupt nicht erwähnt zu werden bräuchte. Die Stadt, in die die Straße hineinführt, wiederum
wirkt wie ausgestorben. Weit im Hintergrund, wo das Gelände unmerklich
ansteigt, stemmen sich die Giebel und Dächer von Fachwerkhäusern gegen einen
trüben, vergilbten Himmel. Auf der hohen Mauer, die sich rechts von der Straße
erhebt, sobald diese das Tor passiert hat, wachsen dichte Büsche, kleine Bäume.
Links reihen sich, allerdings durch unseren Standpunkt nur als flächige Linie
wahrnehmbar, gedrängte Gebäude, darunter wohl mindestens eine Schänke, wenn ich
das Schild richtig interpretiere, das von einer Fassade hervorsteht, und
offenbar einen Ziegenbock zeigt, der stolz einen Bierkrug hält. Es wäre schön,
das Photo, schwarzweiß, grobkörnig und unheimlich wie viele dieser alten Bilder, bei deren Betrachten
man genau hört wie die Dinge knarzen unter der Last der Zeit, die auf ihnen liegt; es wäre schön, ein
wenig leblos vielleicht, aber allein die interessante Komposition mit dem Tor
im Vordergrund und der Ortschaft dahinter wie etwas, das man durch ein Schlüsselloch
sieht, und die Optik dieses Ortes, der schon sehr alt gewesen sein muss, als
man die ersten Kameras erfunden hat, und natürlich die Zeit, die sich der
Materie des Bildes eingeschrieben hat, hätten mich genügend fasziniert, dass
ich es eine Weile mit mir herumgetragen hätte. Was dem Fass aber den Boden
ausschlägt, und der Photographie ein Meer an Mehr hinzuaddiert, das sind drei
Gestalten, die wirken, als seien sie vom Photographen ganz gezielt auf der
Straße platziert worden.
Der Linse am nächsten steht ein
kleines Mädchen. Wie alt mag sie sein? Ich bin schlecht darin, das Alter von
Kindern zu schätzen. Meine Ex-Freundin war Meisterin darin. Sie sah eins, und
wusste sofort: Fünf, oder Sieben, oder Zehn. Aber sie war auch neun Jahre
Mutter zu dem Zeitpunkt. Lassen wir das Mädchen auch einfach mal neun sein –
damals zumindest: heute ist es tot und begraben. Es trägt einen Hut, und eine
(Schul?)tasche in der Rechten, und einen Rock, und ist überhaupt artig genug
angezogen, dass ich mir vorstellen kann, die Erwachsenen kneifen es oft in die
Wange. Seine Augen sind auf die Kamera gerichtet – und auf mich, was das
angeht. Nein, so steht niemand am Straßenrand, der gerade von einem Paparazzo
überrascht worden ist. Da sich die zweite Person weiter entfernt befindet,
fällt es bei ihr noch schwerer, irgendetwas mit Sicherheit bestimmen zu können.
Ist das ein weiteres Mädchen, oder doch ein Bub? Das Kind hat die Arme
verschränkt, oder? Für mich sieht es aus, als habe es eine Kapuze übergezogen,
und als würde es ebenfalls die Kamera anstarren. Ununterscheidbar bleibt, ob
das Kind genau weiß, was das für eine Apparatur ist, und dass sie sein Bild
will, und was sie danach mit diesem anzustellen plant, oder ob es mit einer Mischung aus
Irritation und Beklemmung die Kamera studiert. Erst ist mir das gar nicht
aufgefallen, aber links muss sich noch ein Kind versteckt haben. Nun wird das
Photo vollends zu einem Vorläufer dessen, das David Hemmings in Antonionis BLOW
UP zu den wildesten Spekulationen verleitet. Ist das wirklich ein Mensch, dort
links an der Hausmauer, und sind das wirklich Mädchenschuhe, die ich sich
deutlich vom hellen Pflaster abzeichnen zu sehen meine, und ist das wirklich
eine Rockfalte, die da frech Richtung Straße flattert, um meine Blicke auf den
Körper zu ziehen, den sie bedeckt? Eins weiß ich jedoch: Diese Kinder sind
Erwachsene geworden, alt und gebrechlich, und dann gestorben, wenn sie der Tod
nicht vor ihrer Zeit erwischt hat. Aber tot sind sie, keine Frage. Noch eins weiß ich: Diese Stadt, das ist Bad
Wimpfen, und dieses Tor, das heißt Unteres Tor. Alles Weitere – die genauen
Umstände, weshalb das Photo gemacht worden ist, und von wem, und wann genau im
Jahr 1905, aus dem die Postkarte datiert ist, die das Bild als Motiv verwendet
– hat sich im Kondensationsdunst der Geschichte verloren.
Wochen, nachdem ich das Photo zum
ersten Mal gesehen habe, sitze ich in einer S-Bahn von Heidelberg nach
Heilbronn, um dort umzusteigen in eine, die nach Bad Reichenhall weiterfährt.
Es hat einen Erdrutsch gegeben, heißt es, und in Bad Wimpfen sei erst einmal
Schluss mit der Fahrt, und wenn man weiterkomme wolle, müsse man auf
Schienenersatzverkehrsbusse ausweichen. Ich will allerdings gar nicht über Bad
Wimpfen hinaus, und blättere, während das Geräusch, das ich inzwischen auf der
Welt am meisten verabscheue, das ist, das meine verschnupfte Nase macht, wenn
sie sich in Taschentücher entleert, noch einmal in meinen Aufzeichnungen zum
Konnex zwischen Tod und Photographie. Roland Barthes schreibt in seinem
grundlegenden Essay zum Thema, LA CHAMBRE CLAIRE von 1980: „In einer Gesellschaft muß der Tod
irgendwo zu finden sein, wenn nicht mehr (oder in geringerem Maße) in der
religiösen Sphäre, dann anderswo; vielleicht in diesem Bild, das den TOD
hervorbringt, indem es das Leben aufbewahren will.“ Auch Siegfried Kracauer,
etwa ein halbes Jahrhundert zuvor, konstatiert in seinem PHOTOGRAPHIE-Aufsatz von 1927, dass der soziale Gebrauch von Photographien innerhalb der
abendländischen Kultur vorrangig diktiert sei von einer unausgesprochenen,
gesamt-gesellschaftlichen Todesfurcht und, bewusst oder unbewusst, dazu diene,
durch Häufung mimetischer Repräsentationen schlussendlich den Versuch eines
Tötens des Todes selbst zu unternehmen. Allerdings markiert er solcherlei Anstrengungen als zutiefst defizitär. „Sie [die photographierte Gegenwart] scheint dem Tod
entrissen zu sein; in Wirklichkeit ist sie ihm preisgegeben.“ Konsequent
erscheinen ihm Figuren wie die kleinen Mädchen auf der
Bad-Wimpfen-Stadttor-Ansicht nicht wie lebendige, lediglich innerhalb des Bildkaders
stillgelegte Menschen aus Fleisch und Blut. Für ihn sind es Leichen, Puppen,
Mannequins, und, in einer besonders krassen Formulierung, der einstmals
Gegenwart gewesene und, mit zunehmender Alterung, nutzlos werdende „Abfall“ der
Geschichte, der ursprünglich nicht im Hinblick auf eine mögliche spätere
Sinnzuschreibung archiviert worden ist, und deshalb, wie ein beliebiges Schlossgespenst,
„komisch und furchtbar zugleich“ wirkt. Walter Benjamin sieht das Ganze ein wenig positiver, wenn er zumindest die frühe
Portraitphotographie von ihrem Charakter als sich vorrangig über ihre
technische Reproduzierbarkeit definierende Massenware befreit. Allein, weil die
photographierten Menschen aufgrund der langen Belichtungszeit nicht nur für
einen schnell vorübergehenden Schnappschuss, sondern mitunter minutenlang
stillhalten, sprich, ihre eigene zukünftige Existenz als Tote vorwegnehmen
mussten, winkt uns, seiner Meinung nach, aus diesen Bildern die Aura, dieses „sonderbares
Gespinst aus Raum und Zeit: einmalige Erscheinung einer Ferne, so nah sie sein
mag“, ein letztes Mal, bevor die Wahrnehmungsformen der Moderne ihr den finalen
Dolchstoß verpassen. Interessanterweise bringt er in seiner KLEINEN GESCHICHTE
DER PHOTOGRAPHIE von 1931 ausgerechnet die Paris-Bilder Eugène Atget als
Beispiel für die „Befreiung des Objekts von der Aura“ – menschenleere
Straßenansichten, die wirken, als seien sie in einer Metropole geschossen
werden, die von irgendeiner Katastrophe vollkommen entvölkert worden ist, und
die nicht geringe Ähnlichkeit mit meiner Bad-Wimpfen-Photographie hätten – nun,
zumindest, wären da die drei kleinen Kinder nicht.
Das Gebiet des heutigen Bad Wimpfens
wurde schon zur Zeit der Kelten besiedelt, später dann zur bedeutenden römischen
Kastellstadt. Sein bedeutendstes Bauwerk ist die an der Schwelle vom 12. auf
das 13. Jh. errichtete Stauferpfalz, bei der es sich, so berichtet mir ein
Reiseführer, den ich im örtlichen Touristikbüro einstecke, um die größte noch
erhaltene Kaiserpfalz nördlich der Alpen handle. Es folgen – das wiederum kann
man auch auf den vielen touristenfreundlichen Tafeln lesen, die in der Altstadt
verteilt sind – nach Niedergang der Stauferdynastie die Ernennung zur Freien
Reichsstadt, die 1803 aufgehoben wurde, als Wimpfen durch den
Reichsdeputationshauptschluss dem Kurfürstentum Hessen zugesprochen wird. Da
dessen Landesgrenzen allerdings etwa 40 Kilometer entfernt liegen, kann sich
die Stadt weitgehend autonom verwalten – und sich vor allem nach geglückter
Versuche zur Soleförderung ab den 1830er Jahren zum Kurbad mausern, das sie dann
auch bleibt, nachdem sie nach dem Zweiten Weltkrieg dem neuformierten Bundesland
Baden-Württemberg zugesprochen wird. Das Kurbad, heute allerdings
Gesundheitszentrum genannt, gibt es noch immer. Es liegt etwas außerhalb der
Kernstadt, und hat wohl den am wenig beeindruckendsten Kurpark, den ich jemals
gesehen habe. Dafür verliere ich mich in den engen, teilweise extrem steilen
Altstadtgassen, die hoch hinauf zu Steilhängen über dem Neckar führen, und in
Gaststuben, wo es noch mit Stammtisch-Schildern gekennzeichnete Bereiche gibt,
und das einzige vegetarische Gericht ein herkömmlicher Salat ist (immerhin mit Rettich!),
und in dem irritierenden Kontrast zwischen Alt- und Neustadt: Kaum hat man nur
einen Schritt außerhalb der ehemaligen Stadtmauern getan, blicken einen die
gleichen architektonisch auf sehr zweckorientierten, kaum ästhetischen
Beinen stehenden Mehrfamilienhäuser an. Aber all das ist nur die Kür zu meinem
eigentlichen Anliegen: Einer Spur zu folgen, die das Licht, das drei Körper im Jahre 1905 reflektiert haben, zwischen mir und einem Bild
bildet, auf das ich per Zufall im Internet gestoßen bin, und das ich seither
nicht mehr aus dem Kopf bekomme. Dass ich das Ende dieser Spur nur wenige
Minuten nachdem ich aus der Bahn gestiegen bin, finde, hätte das Potential mich
zu enttäuschen haben können, wäre es nicht so überraschend gewesen. Kein langes Suchen und Nachforschen –
Entschuldigung, kennen Sie dieses Tor?, kennen Sie diesen Ziegenbock?, kennen Sie
diese Kinder? -, stattdessen muss man sich vom Bahnhof nur nach rechts wenden,
und schon bringt einen ein Steilweg in die Altstadt hinauf, und direkt unter
dem Bogen des Unteren Tors hindurch. Ich bin wie sprachlos. Für einen kurzen
Moment ist es wirklich so, als ob man vor einer Sache steht, von der man
bislang irgendwie doch noch insgeheim vermutet hat, dass sie in Wirklichkeit gar
nicht existiert. Vielleicht hätte sich David Hemmings in Antonionis BLOW UP
ähnlich gefühlt, wenn im Parkgebüsch wirklich ein Ermordeter auf ihn gewartet hätte.
Ich habe mich mit einem Salat
gestärkt, und einer Katze vor den Mauern der Dominikanerkirche mindestens eine
Viertelstunde beim Sich-Putzen zugeschaut, und in den Gassen Bonbons
aufgelesen, die wohl vom Faschingsumzug wenige Tage zuvor stammen. Mindestens ein Auto ist drübergerollt. Ich bekomme sie kaum aus der Verpackung. Sie schmecken scheußlich, und meine Finger kleben danach. Wenn ich
noch Wimpfen im Tal mit seiner Stiftskirche einen Besuch abstatten möchte, muss
ich mich beeilen. Wenigstens bis nach Heilbronn sollte ich heute wieder kommen,
will ich nicht erneut alle Pläne über den Haufen werfen. Habe ich nicht bekommen, was ich wollte? Einmal unter dem Tor stehen, es anfassen, feststellen, es ist echt. Langsam laufe ich zu ihm zurück, von hinten diesmal, wie jemand, der etwas im Schilde führt. Ich zögere
lange, ob ich ein Photo schießen soll. Es kommt mir wie ein Sakrileg vor. Das
liegt nicht so sehr an den Gebäuden. Die sind allesamt relativ guterhalten –
überhaupt scheint mir Wimpfen eine der wenigen deutschen Städte zu sein, die
ihren Altstadtkern annähernd vollständig über die Jahrhunderte hinweggerettet
haben. Was aber stört, das ist der Lieferwagen, der an der linken Straßenseite
parkt. Seine Rücklichter blinken, sein Fahrer ist nirgends zu sehen.
Schließlich, nachdem ich eine Weile gewartet habe und nichts passiert ist, drücke ich ein Stück weiter unten auf den Auslöser. Als ich mir das
Photo abends erstmals anschaue, kann ich an ihm nichts Besonderes finden.
Jeder, dem ich es zeigen und die Geschichte dazu erzählen werde, wird mich fragen: Du
bist wegen eines verdammten Stadttors in die Gegend von Heilbronn gefahren? Das ist
ein Tor wie jedes andere auch! Es stimmt. Nicht die Mauer ist besonders, nicht
die Büsche, nicht die Häuser. Vielleicht wäre das Lieferwagen interessant zu werden.
Am Abend notiere ich mir die Frage, ob nicht das von der Zeit Getötete dadurch
näher am Leben ist, weil es seinen Abschluss gefunden hat, übersetzbar wurde,
konsumierbar, auf genügende Distanz, dass es mich in für Außenstehende kaum
nachvollziehbare Abenteuer verwickeln kann wie das oben geschilderte, und ob
nicht dieses Bild, auch wenn sich ihm die Zeit niemals derart einschreiben kann
wie einem analogen, nicht vielleicht doch, irgendwann, wenn ich selbst tot bin,
und wenn man es in diesem Blog findet und es neben sein Original hält, irgendwen auf die Idee bringen
könnte, seiner Spur zu folgen, die nun immerhin schon eine zweigegabelte ist: Eine
führt zu den drei kleinen Kindern, die andere zu mir. „Jede Fotografie ist eine
Art memento mori“, schreibt Susan Sontag in ON PHOTOGRAPHY 1976. „Fotografieren
bedeutet teilnehmen an der Sterblichkeit, Verletzlichkeit und Wandelbarkeit
anderer Menschen (oder Dinge). Eben dadurch, daß sie diesen einen Moment
herausgreifen und erstarren lassen, bezeugen alle Fotografien das unerbittliche
Verfließen der Zeit.“ Wie viel Zeit wirklich vergangen ist zwischen Bad Wimpfen
1905 und Bad Wimpfen 2018 begreife ich erst, als ich später einschlafe. Am nächsten Morgen ist meine Erkältung übrigens wie weggeblasen.